Neue Chancen für Schlaganfall-Patienten

von Redaktion

Aktuelles aus der Forschung: Warum der Faktor Zeit für die Behandlung extrem wichtig ist

Ein FIT-Team: Dr. Thomas Witton-Davies (re.) und Röntgenassistent Mahmoutd Idris mit ADAC-Piloten. © Markus Götzfried

Hier berät Chefarzt Dr. Gordian Hubert per Liveschalte einen Kollegen bei der Behandlung eines Patienten. © München Klinik

Ab jetzt zählt jede Minute. Ein Schlaganfall trifft Menschen oft aus heiterem Himmel. Wichtig ist es jetzt, unverzüglich den Notarzt zu rufen und sich möglichst den Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Patientin zu merken. © PantherMedia; P. Simon

München – Jeder einzelne Fall ist ein Wettlauf gegen die Zeit: 270 000 Menschen erleiden jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall, 50 000 davon allein in Bayern. Rechtzeitig erkannt können Ärzte heute mithilfe modernster Therapien und einem engen Rettungsnetz immer mehr Notfallpatienten vor schweren Folgeschäden bewahren. Eine neue internationale Studie, an der auch Forscher der Technischen Universität München (TUM) mitarbeiteten, lässt die Fachwelt aufhorchen. Künstliche Intelligenz bietet offensichtlich neue Ansätze für eine deutlich präzisere Diagnostik.

Die Forscher erarbeiteten mithilfe der Künstlichen Intelligenz eine Software, die künftig in der Lage sein könnte, den Zeitpunkt eines Schlaganfalls extrem präzise zu bestimmen – entscheidend für die weitere Behandlung. „Ein hochinteressanter Ansatz“, meint auch Dr. Gordian Hubert, Chefarzt der Klinik für Neurologie in der München Klinik Harlaching und zugleich Leiter des dort ansässigen Schlaganfallnetzwerks TEMPiS mit angeschlossenem Flying Intervention Team (FIT).

■ Der Faktor Zeit

85 Prozent aller Schlaganfälle entstehen, wenn die Blutversorgung in einem Teil des Gehirns plötzlich blockiert oder reduziert wird, etwa durch ein Blutgerinnsel (ischämischer Schlaganfall). Ab diesem Moment können in jeder Minute 1,9 Millionen Nervenzellen wegen Sauerstoffmangels absterben – „mit teils schwersten Folgen wie Seh-, Sprach-, und Koordinationsstörungen, Lähmungen oder Taubheit in einer Körperhälfte, je nachdem, in welchen Bereich des Gehirns der Verschluss sitzt“, so Dr. Hubert. Medikamentöse Behandlungen können bei durch ein Blutgerinnsel verursachten Schlaganfällen den Schaden innerhalb von gut viereinhalb Stunden begrenzen. Chirurgische Eingriffe sind bis zu 24 Stunden nach dem Schlaganfall erfolgversprechend. „Ganz grundsätzlich gilt: Je schneller eine Therapie begonnen wird, desto besser für die Patienten. Darum ist für uns die zeitliche Eingrenzung des Beginns eines Schlaganfalls so wichtig“, erklärt Dr. Gordian Hubert.

■ Zwei Behandlungen

CT oder MRT liefern gestochen scharfe Bilder, die Ärzten u. a. den möglichen Zeitpunkt, die Art (Gefäßverschluss oder Gehirnblutung) und die Ausdehnung des Schlaganfalls sowie die betroffenen Hirnareale zeigen. Aufgrund dieser ärztlichen Analyse wird dann die Behandlung festgelegt.

Thrombolyse: Die Lysetherapie ist die Basisbehandlung eines Schlaganfalls in der Akutsituation. Dabei wird ein Medikament (Thrombolytikum) gespritzt, das das Gerinnsel auflöst und den Blutfluss wiederherstellt. Etwa 20 Prozent aller Patienten auf den Spezialstationen für Schlaganfallpatienten (Stroke Units) kommen dafür infrage. Die Thrombolyse wird bei Patienten mit deutlichen neurologischen Symptomen bis viereinhalb Stunden nach dem Auftreten der ersten Anzeichen verabreicht. In Einzelfällen ist die Therapie auch noch später möglich“, so Dr. Hubert. Allerdings gibt es auch Ausschlusskriterien: Patienten, die z. B. Blutverdünner einnehmen, eine Blutgerinnungsstörung haben oder kurz vorher operiert wurden, können nicht mit einem Thrombolytikum behandelt werden.

Thrombektomie: Bei größeren Gefäßverschlüssen kann ein Neuroradiologe das Blutgerinnsel mithilfe eines Katheters entfernen. Der Katheter wird über die Leiste eingeführt und bis zum Blutgerinnsel geschoben. An der Spitze des Katheters befindet sich ein Netz (Stentretriever), mit dem das Blutgerinnsel erfasst und herausgezogen wird. Die Thrombektomie kommt nur für fünf bis zehn Prozent der Patienten infrage, „wenn z. B. ein Verschluss der großen gehirnversorgenden Arterien wie der mittleren Hirnarterie vorliegt“, so Dr. Hubert. Die Erfolge können spektakulär sein: „Es gibt Patienten, die schwerste Lähmungen oder Sprachstörungen hatten und hinterher wieder laufen und sprechen konnten.“

■ Das Rettungsnetz

Stroke Units: In allen größeren Krankenhäusern gibt es Stroke Units. Diese Spezialstationen sind auf die schnelle Diagnose und Behandlung von akuten Schlaganfallpatienten vorbereitet. Sie verfügen über die gesamte Technik und Hightech-Diagnostik wie MRT, CT und Ultraschall. Auf einer Stroke Unit arbeiten Neurologen, Kardiologen, Radiologen, Physiotherapeuten und Pflegekräfte Hand in Hand. Studien zeigen, dass die Behandlung auf einer Stroke Unit das Überleben und die Chancen auf ein gutes Ergebnis deutlich verbessert.

Fliegende Retter: Schlaganfall-Patienten erreichen heute zwar oft schnell eine Stroke Unit. Doch längst nicht jedes Krankenhaus verfügt über hochspezialisierte Neuroradiologen, die eine Thrombektomie ausführen können. In der München Klinik Harlaching arbeiten rund um die Uhr vier bis fünf Neuroradiologen. Im Februar 2018 startete in der München Klinik Harlaching das Flying Intervention Team (FIT) – eine medizinische Luftbrücke in Kooperation mit ADAC und Helicopter Travel Munich (HTM). Dr. Hubert: „Dieses Projekt stand von Anfang an im Zeichen des Zeitgewinns.“

Fortan flogen die Harlachinger Neuroradiologen zu ihren Patienten. Seit Sommer 2022 fliegen die Ärzte im Regelbetrieb 365 Tage im Jahr von 8 bis 22 Uhr zu 15 Partnerkliniken in Ober- und Niederbayern und der südlichen Oberpfalz bis nach Cham. Mehr als 700-mal sind die fliegenden Teams in den letzten Jahren ausgerückt. Mittlerweile sind sie eine lebensrettende Institution. Denn: „Die Studienauswertung ergab, dass bei den Verlegungen auf dem Landweg 140 bis 150 Minuten bis zum Beginn der Behandlung verstrichen. Mit dem Hubschrauber schaffen wir das alles von der Entscheidung bis zum Beginn der Therapie 90 Minuten schneller“, so Dr. Hubert. Eineinhalb Stunden Zeitgewinn in der akuten Phase, in der es für Schlaganfall-Patienten um alles geht.

Telemedizin: 2003 wurde an der München Klinik Harlaching das Telemedizinische Schlaganfallnetzwerk Süd-Ost-Bayern (TEMPiS) gegründet. Per Video-Liveschalte unterstützen Dr. Gordian Hubert und sein Neurologen-Team ihre Kollegen in den Notaufnahmen der ländlichen Partnerkliniken bei der hochkomplexen Diagnostik und Therapieentscheidung. Mit damals bereits mehr als 100 000 Beratungen feierte TEMPis im Jahr 2023 sein 20-jähriges Bestehen.
DORITA PLANGE

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