Die Abnehmspritze kann dabei helfen, Kraknheiten zu verhindern, sagt Prof. Matthias Tschöp. © Panthermedia
Übergewichtigen fehlt es am Gefühl dafür, wann sie satt sind, sagt Matthias Tschöp. Er hat das Hungerhormon Ghrelin entdeckt, an dem die Abnehmspritze ansetzt. © PantherMedia
München – Starkes Übergewicht und Diabetes kosten Lebensjahre. Eine der Stellschrauben für gesundes Altern ist es, übermäßiges Essen, ungezügelten Appetit und unausgeglichenen Stoffwechsel in den Griff zu bekommen, sagt Prof. Matthias Tschöp. Der Neuroendokrinologe entdeckte das sogenannte Hungerhormon, forschte in den USA und kam 2011 zurück in seine Heimatstadt München, wo er die Abteilung für Stoffwechselerkrankungen an der Technischen Universität München leitete und unter anderem als Forschungsdirektor am Helmholtz Zentrum zu Diabetes und Übergewicht forschte. Ab Oktober dieses Jahres wird Tschöp Präsident der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seinem Vortrag bei der Konferenz „Turn Around Aging“ in München Mitte März gab er den Titel „Die Entdeckung der Abnehmspritze: Sind Übergewicht und Diabetes Geschichte?“ Im Interview erklärt er, ob das so ist.
Wie erklären Sie den massiven Anstieg von Übergewicht und Diabetes Typ 2?
In vielen Fällen entsteht Diabetes Typ 2 erst im Lauf des Lebens und ist meist ernährungs – und gewichtsbedingt. Es ist zu vereinfachend, den Einzelnen die Schuld an ihrem Übergewicht zu geben und zu hoffen, sie bekämen es mit Schulungen zu gesunder Ernährung in den Griff. Der Mensch ist seit der Urzeit genetisch darauf programmiert, auf Vorrat zu essen. Genau dieses Programm, das früher unser Überleben sicherte, wird jetzt zum Bumerang. Denn Nahrungsmittel sind in unserer Gesellschaft heute im Überfluss vorhanden und enthalten oft viel Fett und Zucker, zudem werden wir ständig mit appetitanregenden Gerüchen und Bildern, auch in der Werbung, konfrontiert. Bei vielen Menschen funktioniert aus genetischen Gründen der Sättigungs-Mechanismus nicht ausreichend, sodass sie weiteressen und sich auch mit vollem Magen noch hungrig fühlen. Insofern ist die Abnehmspritze ein Meilenstein. Mit ihr wurde ein Wirkstoff gegen Adipositas und Diabetes gefunden. Zudem auch ein hocheffektives Medikament zur Vorbeugung von Folgeerkrankungen von schwerem Übergewicht, denn das erhöht beispielsweise die Risiken für Herzinfarkt, Schlaganfall, Darmkrebs oder Alzheimer und viele mehr.
Wie wirkt die Abnehmspritze?
1994 entdeckte man das Sättigungshormon Leptin. Es fehlt manchen Menschen, die dann häufig zu übermäßigem Essen neigen. Doch es reicht nicht, dieses Sättigungshormon künstlich zuzuführen. Im Jahr 2000 gelang es uns, das Hungerhormon Ghrelin zu finden, das im Gehirn das Hungergefühl auslöst. Das erste Mittel mit einiger Wirkung war Semaglutid, das auf der Struktur des Hormons GLP-1 basiert, welches das Hungergefühl eindämmt. Mit neuesten Versionen können Patienten mit starkem Übergewicht damit ihr Körpergewicht um zehn bis 15 Prozent reduzieren. Die neueren Wirkstoffklassen, die wir entdeckt haben, kombinieren zwei oder drei Hormonwirkungen in einem einzigen Molekül. Eine Version, die die Wirkung der den Hunger unterdrückenden Hormone GLP 1 und GIP kombiniert, wäre das Präparat Tirzepatid. Mit diesem ist es heute erstmalig möglich, dass Patienten mit starkem Übergewicht ihr Körpergewicht um 20 bis 25 Prozent reduzieren. Ich erwarte, dass in den kommenden zehn Jahren mehr als ein Dutzend Präparate, basierend auf der von uns entdeckten Wirkstoffklasse, zugelassen werden. Ein Dreifach-Kombinationspräparat unter dem Namen Retatrutid scheint aktuell besonders aussichtsreich.
Kann man per Spritze dauerhaft abnehmen?
Die Mittel wirken vom Mechanismus her wie ein Magenbypass. Doch sie einfach nur eine Zeit lang zu spritzen, bis man das Wunschgewicht erreicht hat, wird nicht funktionieren. Studien zeigen, dass Patienten, wenn sie die Mittel absetzen, wieder zunehmen – bis zu ihrem Ausgangsgewicht oder sogar darüber hinaus. Ich vergleiche die Abnehmspritze deshalb manchmal mit Mitteln zur Senkung von Bluthochdruck. Diese kann man auch nicht einfach absetzen, ohne dass der Blutdruck wieder ansteigt. Zum Teil auftretende Nebenwirkungen der Abnehmspritze, etwa Übelkeit oder dauerhaftes Völlegefühl bekommt man zunehmend in den Griff. Allerdings bleibt es sehr wichtig, dass erfahrene Ärztinnen und Ärzte diese Medikamente verantwortlich verschreiben: Wenn beispielsweise eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse durchgemacht wurde, dürfen diese nicht angewendet werden.
Ist Übergewicht also nicht nur einfach ein Mangel an Disziplin?
Menschen mit einem starken Übergewicht leiden an überaktiviertem Appetit, schlechter Sättigung und sehr häufig auch einem gestörten Stoffwechsel. Wir wissen aus Jahrzehnten von Studien, dass es aufgrund der überwiegend genetisch bedingten Krankheitsprozesse leider bei den allermeisten Patienten auf Dauer nicht reicht, nur gesunde Ernährung und sportliche Aktivität zu empfehlen. Dauerhaft deutliches Übergewicht kann schwerwiegende, ja tödliche Folgen haben.
Die Abnehmspritze kostet 170 und 350 Euro pro Monat. Wird sie günstiger?
Meine Prognose ist, dass es in den kommenden zehn Jahren zahlreiche neue Versionen der Abnehmspritze gibt. Wenn es zum Wettbewerb zwischen den Anbietern kommt, werden die Medikamente aller Voraussicht nach deutlich günstiger werden, bevor einige Jahre später dann die ersten Patente auslaufen und es noch einmal deutlich billigere Generika geben wird. Dann kann die Abnehmspritze auch in der Breite gegen Übergewicht eingesetzt werden. Es ist zu hoffen, dass auch die Krankenkassen eher erstatten, da es wirtschaftlicher ist, schwere Komplikationen zu verhindern, als dass man später – häufig vergebens – versucht, zu therapieren.
INTERVIEW: SUSANNE SASSE