„Es geht darum, Halt zu geben“

von Redaktion

Vom Top-Manager zum Sterbebegleiter: Wie ein Münchner sein Leben umkrempelte

Ein Buch zum Nachdenken: Müllers Werk ist bei Haufe erschienen.

Starkes Team: Hündin Ronja lebt über „Dog-Sharing“ in Teilzeit bei Markus C. Müller. Viele Sterbende freuen sich, wenn sie mit zur Begleitung kommt. © Fotos: privat

München – In der Sekunde, in der Markus C. Müller – ein Unternehmer und Wirtschaftsmanager aus München – sich maßlos ärgerte, weil sein Chauffeur ihm die Autotür nicht aufgehalten hatte, wusste er: „Mit mir stimmt etwas ganz grundlegend nicht mehr. „Der egomane Manager, der sich über eine Kleinigkeit aufregt? Ein Mann, der aufgrund seiner Position bedient werden will? Das bin doch nicht ich?“, fragte er sich für einen Moment. Doch der Zweifel verschwand zunächst so schnell, wie er gekommen war. Zehn Jahre sind seitdem vergangen – heute sieht das Leben des damaligen Europa-Chefs von Blackberry ganz anders aus. Vom Top-Manager wurde er zum Sterbegleiter und hat durch die radikale Veränderung seines Lebens wichtige Erkenntnisse gewonnen. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Im Angesicht des Lebens“ erzählt er seine Geschichte und motiviert seine Leser, eigenen Ideen und Berufungen zu folgen und das zu tun, was einen wirklich zufrieden macht.

Doch zunächst zurück ins Jahr 2015: Zur damaligen Zeit hatte der erfolgreiche Manager vollgepackte Tage, absolvierte 250 Flüge im Jahr, hatte rund 4000 Mitarbeitende zu führen und die Verantwortung fürs europäische Business eines kanadischen Konzerns, mit dem er eine Milliarde Dollar Umsatz erwirtschaftete. Der Vorstandsposten war nur noch einen sehr kurzen Schritt entfernt. Eigentlich war alles perfekt – könnte man meinen. Als ihm jedoch ein Buch über Sterbende in die Hände fiel, wurden ihm schlagartig die Leerstellen in seinem eigenen Leben bewusst. Die aufgeführten Versäumnisse berührten ihn sehr. „Dort war genau das aufgelistet, was ich selbst auf dem Sterbebett bereuen würde, wenn ich nichts ändere“, dachte er. Er kündigte seinen Job bei BlackBerry und absolvierte eine Ausbildung zum Hospizbegleiter. Im Interview schildert der 51-Jährige, wie er in sein neues Leben gefunden hat.

Als Sie Ihre Stelle gekündigt haben, sind Sie erst einmal in ein tiefes Loch gefallen. Was raten Sie Menschen in ähnlichen Situationen?

Ich rate nicht jedem, in vergleichbaren Situationen direkt zur Kündigung zu greifen. Oft können bereits kleinere Schritte einen positiven Wandel bewirken. Zum Beispiel könnte man auf eine Beförderung verzichten, zusätzliche Aufgaben abgeben oder ein Ehrenamt übernehmen. Solche Maßnahmen können ein erster Schritt zu einem zufriedeneren Leben sein. Entscheidet man sich dennoch für die Kündigung, ist es entscheidend, die Zeit danach bewusst zu meistern und nicht vorschnell in das alte Leben zurückzukehren, nur weil sich nicht sofort etwas Neues, Passenderes ergibt. Hierbei sind Durchhaltevermögen und das Vertrauen essenziell, dass das Richtige zur richtigen Zeit kommen wird.

Bei Ihnen war „das Richtige“ die Sterbebegleitung. Welche Menschen begleiten Sie beim Sterben – und in welchem Rahmen?

Wir begleiten Menschen, die zu Hause sterben möchten. Unser Team beim Hospizdienst DaSein e. V. besteht aus rund 30 hauptamtlichen Mitarbeitenden – Ärzte, Pflegekräfte, Sozialpädagogen – ergänzt durch über 100 Ehrenamtliche. Gemeinsam kümmern wir uns ambulant um die Sterbenden und ihre Angehörigen, bald auch stationär: Wir planen gerade ein Hospiz- und Palliativzentrum in München. Unser Ziel ist es, Klinikaufenthalte möglichst zu vermeiden und den letzten Lebensabschnitt so würdevoll und selbstbestimmt wie möglich zu gestalten.

Wie kommen die Menschen auf Ihren Verein?

Oft ist es der Hausarzt, der uns empfiehlt – oder jemand hat von uns gehört, eine Nachbarin, ein Freund. Manche stoßen auch erst mitten im Pflegeprozess auf uns – wenn die Belastung schon sehr hoch ist. Wir begleiten Menschen aus allen sozialen Schichten, es gibt da keine typischen Fälle. Oft steht gar nicht nur der Sterbende im Mittelpunkt, sondern auch die Angehörigen, die Unterstützung brauchen – emotional, aber auch ganz praktisch.

Wie läuft so eine Sterbebegleitung konkret ab?

Das ist sehr individuell. In manchen Fällen verbringe ich Zeit mit dem Sterbenden, damit der Partner oder die Tochter mal durchatmen kann – einkaufen, Sport machen oder einfach schlafen. In anderen Situationen geht es mehr um die Angehörigen selbst. Ich erinnere mich an eine Familie, bei der wir jede Woche zu dritt mit Kaffee und Kuchen am Bett saßen. Der Sterbende konnte nicht mehr kommunizieren – aber für die Familie waren diese zwei Stunden ein wertvoller Raum zum Durchatmen. Es geht darum, Halt zu geben. Und das bedeutet manchmal auch: sich auf die Realität des Sterbenden einzulassen – wie bei einer Frau mit Demenz, die überzeugt war, bald aufs Matterhorn zu steigen. Da erklärt man nicht, dass das nicht mehr geht. Man begleitet sie in ihrer Welt, nicht in unserer.

Gibt es eine Geschichte, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Ja, eine Frau mit ALS – eine sehr herausfordernde Situation. Ihr Körper hat nach und nach jede Funktion verloren, aber geistig war sie bis zuletzt völlig klar. Ihr Mann hat sie jahrelang gepflegt – bis zur totalen Erschöpfung. Am Ende konnte sie sich nur noch mithilfe eines selbst gebastelten Kommunikationsblatts verständigen. Ein Satz dauerte zehn Minuten. Irgendwann musste sie gegen ihren Willen in ein Pflegeheim verlegt werden, weil ihr Mann nicht mehr konnte. Sie starb in der zweiten Nacht dort. Eine dramatische Entscheidung, mit der viele Angehörige ringen: Wie viel kann ich selbst leisten und wo ist meine Grenze? Das hat mich sehr bewegt.

In Ihrem Buch „Im Angesicht des Lebens“ benennen Sie fünf persönliche Werte, die Sie „Qualitäten“ nennen. Was ist Ihre größte Erkenntnis aus Ihren Begegnungen mit Menschen auf dem Sterbebett?

Die größte Erkenntnis, die ich aus meinen Begegnungen mit Menschen am Sterbebett gewonnen habe, ist, wie essenziell es ist, ein Leben zu führen, das im Einklang mit den eigenen Werten und Wünschen steht. Dafür ist es jedoch zunächst notwendig, sich darüber klar zu werden, was diese Werte und Wünsche überhaupt sind. Allzu oft leben wir unbewusst nach den Erwartungen anderer – sei es die der Eltern, Freunde oder Gesellschaft – und verlieren dabei aus den Augen, was uns selbst wirklich wichtig ist. Im Sterbebett wird vielen bewusst, wie sehr sie sich von diesen äußeren Erwartungen leiten ließen, und sie bereuen es, nicht den Mut gehabt zu haben, ihr eigenes Leben zu leben.

Die Sterbebegleitung machen Sie ehrenamtlich – ist Ihr CEO-Job bei Nui Care nicht doch wieder ein Manager-Job wie früher?

Ja, aber es fühlt sich völlig anders an als früher. Bei Nui Care sehe ich einen Sinn in der Aufgabe. Wir machen eine App, die pflegende Angehörige unterstützt. Viele Menschen rutschen über Nacht in eine Pflegesituation, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Wir helfen dabei, den Überblick zu behalten: mit Checklisten, Informationen, Ansprechpartnern und Beratung. Ob es um Anträge, Tagespflege oder schwierige Alltagssituationen geht – wir begleiten die Menschen strukturiert durch den Pflege-Dschungel. Bei Blackberry war ich zu 98 Prozent nur im Beruf und auf der emotionalen Ebene haben mich Hard- und Softwarethemen nicht berührt. Heute bei Nui sind es 60 oder 70 Prozent, es bleibt mehr Raum für Sinnvolles, für Begegnungen, für anderes. Ich halte Vorträge, begleite Menschen, investiere in Start-ups, die mich wirklich interessieren.


SUSANNE HÖPPNER