Wenn der Sehnerv unter Druck gerät

von Redaktion

Beim Augenultraschall wird geprüft, wie hoch der Druck des Hirnwassers auf den Sehnerv ist.

Neurologin Dr. Anja Wilkening (rechts) zeigt Bianca Kondella an einem Gehirnmodell, was genau bei ihrer Krankheit unter der Schädeldecke passiert. © Jens Hartmann (2)

München – Wenn Bianca Kondella von ihren vergangenen eineinhalb Jahren erzählt, klingt es fast wie ein Krimi. Die 43-jährige Münchnerin arbeitet im Einzelhandel am Marienplatz – hektische Tage, viel Kundenkontakt, wenig Pausen. Dass sie seit ihrer Jugend Migräne mit Aura hat, gehört für sie zum Alltag. „Wenn ich Migräne hatte, sahen Menschen für mich aus wie funkelnde Diamanten – ich habe gelernt, damit zu leben.“ Doch Ende 2023 beginnt etwas, das sie zunächst nicht ernst nimmt. Eine sogenannte Idiopathische intrakranielle Hypertension macht sich bemerkbar – doch das weiß sie zu diesem Zeitpunkt nicht. „Ich hatte schlimme Kopfschmerzen und plötzlich flackerte es immer wieder an meinem rechten Auge, anders als sonst. Ich dachte, das ist der Vorweihnachtsstress.“ Die vertrauten Migränekopfschmerzen fühlen sich anders an. Am 28. Dezember bekommt sie nach einer Untersuchung bei ihrer Migräne-Neurologin schließlich einen Augenarzttermin in der Innenstadt. „Die Ärztin wurde ganz still, holte ihren Mann dazu. Beide waren erschrocken. Ich hatte eine Stauungspapille.“ Ein gefährlicher Befund: Nervenwasser staut sich und drückt auf den Sehnerv – im schlimmsten Fall kann das zur Erblindung führen. „Sie sagten mir, ich soll sofort ins Krankenhaus. Ich habe das gar nicht richtig realisiert.“

■ Diagnose mit Gänsehautmoment

Bianca landet über einen Umweg in der neurologischen Tagesklinik der München Klinik Harlaching. Der Verdacht bestätigt sich: Idiopathische intrakranielle Hypertension (IIH) – ein seltenes Krankheitsbild, bei dem zu viel Hirnwasser im Kopf zu einem gefährlichen Überdruck führt. „Das Nervenwasser schützt und ernährt unser Gehirn“, erklärt Dr. Anja Wilkening, Fachärztin für Neurologie. „Wird es zu viel, drückt es auf empfindliche Strukturen wie den Sehnerv. Das ist extrem schmerzhaft und kann das Augenlicht bedrohen.“

Was folgt, ist ein medizinischer Eingriff, der für Bianca zur Grenzerfahrung wird: eine Lumbalpunktion. Dabei wird Nervenwasser über den Rücken entnommen, um den Druck zu senken. „Ich hatte Todesangst“, sagt Bianca. „Ich war klatschnass geschwitzt, habe die Hand meines Mannes zerquetscht.“ Der gemessene Druck: 36,5 mmHg– normal wären unter 20. 30 Milliliter Hirnwasser werden abgelassen. Bianca bleibt stationär, wird weiter untersucht.

Für die langfristige Therapie braucht es Entschlossenheit. Medikamente sollen den Druck dauerhaft senken, doch Bianca verträgt die Tabletten zur Entwässerung anfangs kaum. „Mir ist alles eingeschlafen – sogar mein Schienbein! Mir war ständig übel, ich konnte nur noch Eier und Bananen essen. Getränke mit Kohlensäure haben wie Nagellack geschmeckt.“

■ Therapie mit viel Entschlossenheit

Eine Operation mit dauerhaftem Abfluss des Nervenwassers – ein sogenannter Shunt – steht im Raum. „Das wollte ich unbedingt vermeiden. Die Ärzte haben mir erklärt: Das Wichtigste ist, dass ich die Krankheit annehme – und Verantwortung übernehme.“

Bianca ändert ihr Leben. Schritt für Schritt. Sie beginnt, Kalorien zu zählen, geht täglich spazieren – meistens zusammen mit ihrem Ehemann. Sie fährt viel Fahrrad, stellt ihre Ernährung um, nimmt 20 Kilo ab. „Ich war nie wirklich dick, aber das Übergewicht war ein Risikofaktor.“

Die behandelnde Neurologin Dr. Anja Wilkening bestätigt: „Warum die Krankheit entsteht, ist noch nicht völlig erforscht. Aber wir wissen: Übergewichtige Frauen sind besonders gefährdet. Eine Reduktion des Gewichts in Kombination mit medizinischer Begleitung bringt oft wirklich große Erfolge.“

■ Tagesklinik als Rettungsanker

Für Bianca wurde die Neurologische Tagesklinik Harlaching zum Rettungsanker. Über Monate hinweg kommt sie regelmäßig zur Kontrolle und zur Punktion. „Ich bin jetzt fast ein Profi – es macht mir kaum noch etwas aus.“ Nur einmal noch gibt es einen Rückschlag: Zu viel Belastung bei der Arbeit, der Druck steigt, Schwindel und Schmerzen zwingen sie wieder in die Klinik. „Das Tolle war: Sie kannten mich dort, meine Geschichte, meine Ängste. Ich wurde ernst genommen – und sofort behandelt.“ Heute ist Biancas Zustand stabil. Die Medikamentendosis konnte gesenkt werden, die Kontrolltermine sind seltener geworden. Ihr Ziel: irgendwann ganz ohne Medikamente leben.

Dr. Elisabeth Frank, Leiterin der neurologischen Tagesklinik, sagt: „So eine lange Begleitung ist bei uns eher untypisch. Aber bei dieser seltenen Erkrankung ist sie notwendig – auch weil viele niedergelassene Neurologen keine Punktionen anbieten.“ Für sie ist das interdisziplinäre Arbeiten entscheidend: „Diagnose und Therapie sind in unserer Tagesklinik eng verzahnt.“