Die EU und ihre Aufmucker

von Redaktion

Ist Brüssel gegenüber Polen zum Zuschauen verdammt? Was die laufenden Rechtsstaats- und Vertragsverletzungsverfahren bringen

München – Wer in die EU will, muss sich ganz schön ins Zeug legen: Vom Rechtssystem bis zur wirtschaftlichen Stabilität sollte alles unions-kompatibel sein. Wer in der EU ist, hat es da schon leichter. Denn mit Aufmuckern tut sich Brüssel schwer.

Ganz akut: Polen. Die nationalkonservative PiS-Regierung baut derzeit das Justizsystem des Landes um, nach Meinung vieler Experten auf Kosten der Gewaltenteilung. Die Spannung ist am Siedepunkt. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn urteilte unlängst, das heutige Polen könnte nicht mehr EU-Mitglied werden. „Die Zeit des Dialogs neigt sich dem Ende zu“, sagte er hörbar erbost.

Und was dann? Kritiker bemängeln, Brüssel fehle es an geeigneten Mitteln, um Mitgliedstaaten zu sanktionieren. „Die EU hat keinen Mechanismus entwickelt, um die Aushöhlung von Grundwerten aufzuhalten“, sagt etwa Judy Dempsey von der Denkfabrik Carnegie Europe.

Bloßer Zuschauer will die Staatengemeinschaft aber nicht sein, im Fall Polens tut sie jedenfalls das Mögliche. Anfang 2016 hat die EU ein Rechtsstaatsverfahren gegen das Land wegen der Justizreform eingeleitet, seit vergangener Woche läuft ein Vertragsverletzungsverfahren in gleicher Sache. Aber die Wege sind lang und steinig.

Per Rechtsstaatsverfahren kann die EU überprüfen, ob ein Land Grundwerte wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit verletzt. Grundlage ist Artikel 7 des EU-Vertrags, in letzter Konsequenz kann Polen der Entzug seiner Stimmrechte im EU-Rat drohen. Dafür müssten aber alle Mitgliedstaaten unisono eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ von Werten feststellen. Das mit der Einstimmigkeit ist so eine Sache: Niemand glaubt, dass Ungarn, dem selbst so ein Verfahren droht, gegen Polen votiert.

Ist Brüssel also zahnlos? Judy Dempsey sieht das so, der Europarechtler Frank Schorkopf aus Göttingen hält dagegen. Angesichts der „sensiblen Materie“ sei Artikel 7 recht weitreichend, sagt er. In der EU gebe es eben keine Sanktionierung wie in anderen Strafverfahren. Es handele sich um einen „Konflikt, der nur politisch gelöst werden kann“. Bisher hat die EU Artikel 7 noch nicht angewendet.

Bleibt das Vertragsverletzungsverfahren, das auf Dialog ausgelegt ist. Die EU-Kommission leitet es ein, dann folgt ein Schriftwechsel, bei dem sich der beklagte Staat immer wieder erklären kann. Erst in der dritten Stufe darf die Kommission ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof anstrengen. Bis dahin vergehen vier Monate, aktuell macht Brüssel aber mehr Druck. Polen muss sich schon Ende August erstmals erklären.

In 85 Prozent der Fälle einigen sich EU und Mitgliedsland, bevor das Gericht überhaupt angerufen wird. Falls nicht, kann die Kommission eine pauschale Strafzahlung oder ein tägliches Strafgeld beantragen. Ob ein Staat gegen EU-Recht verstößt, entscheidet sich erst nach zwei Jahren. So lange braucht das Gericht im Schnitt für ein Urteil.

Europarechtler Schorkopf hält diesen Weg für sinnvoller, weil ein Gericht urteilt, nicht die Staatengemeinschaft. Alternativ, sagt er, könnten besorgte Regierungen Staaten wie Polen auch vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EuGH) verklagen. Ungarn und die Slowakei haben die Sache umgedreht und gegen die EU-Umverteilung von Flüchtlingen geklagt. Ein Urteil gibt es noch nicht, aber ein wichtiger EuGH-Gutachter hat schon mal vorgelegt. Die Klage wird wohl abgeschmettert.  mmä/dpa

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