London – Usain Bolt strich mit der Hand durch seinen Zehn-Tage-Bart, seine Augen leuchteten. „Welche Schlagzeile ich nach der WM lesen möchte?“, fragte der Superstar und antwortete selbst: „Usain Bolt ist ungeschlagen auf einer Einzelstrecke in den Ruhestand gegangen. Ungeschlagen, unaufhaltbar – das würde mir gefallen.“
Vor dem Schlussakt seiner sagenhaften Karriere ist King Usain die Ruhe selbst. In London, wo er morgen zum vierten und letzten Mal Weltmeister über 100 m werden will, hielt der Sprintkönig aus Jamaika Hof – im schlichten olivfarbenen T-Shirt und mit umgedrehter Basecap. „Es ist eine WM, ich war schon viele Male an diesem Punkt. Es ist Zeit loszulegen. Also lasst uns loslegen“, sagte Bolt, der noch nie ein großes Rennen über 100 m verloren hat. Druck? Welcher Druck? „Wenn ich bei einer WM antrete, solltet ihr wissen, dass ich vollstes Vertrauen in mich habe. Ich bin bereit.“ Weitere Fragen? Überflüssig. Sollen doch andere an ihm zweifeln, Bolt selbst zweifelt vor dem letzten Wettkampf seiner Laufbahn nicht. „Ich denke, ich bin eine Legende“, sagte da einer, der die Leichtathletik in den vergangenen zehn Jahren geprägt hat wie niemand zuvor.
2008 ging der Stern des Superstars auf, bei Olympia in Peking stürmte der damals 21-Jährige zu globalem Ruhm. Acht olympische Goldmedaillen nennt Bolt sein Eigen, elf Triumphe schaffte er bisher bei Weltmeisterschaften – keiner hat mehr Titel als Bolt. Doch nun fällt der Vorhang. Endgültig. Morgen knallt um 22.45 Uhr deutscher Zeit der Startschuss für das Finale über 100 m, sein letztes großes Einzelrennen. „Ich will einfach nur gewinnen“, sagte Bolt, der bisher in diesem Jahr nicht so richtig in Schwung gekommen ist. Mit 9,95 Sekunden liegt der 30-Jährige nur auf Rang sieben in der Welt. Sein alter Rivale Justin Gatlin und junge Wilde wie Christian Coleman (beide USA) jagen ihn.
Sein vermeintlich härtester Kontrahent fehlt indes: Der Kanadier Andre de Grasse, der 2016 bei Olympia in Rio Silber (200 m) und Bronze (100 m) gewonnen hatte, sagte seinen Start gestern wegen einer Oberschenkelverletzung ab. In Rio hatten Bolt und de Grasse noch gemeinsam ihre Späße getrieben, waren im 200-m-Halbfinale feixend Seite an Seite ins Ziel gerannt. Der Jamaikaner adelte daraufhin den Nordamerikaner – bis dieser zu keck wurde: Der 22-jährige de Grasse hatte verkündet, noch zu Bolts aktiven Zeiten die Wachablösung vollziehen zu wollen, zudem behauptete sein Lager, Bolt hätte aus Furcht vor einer Niederlage den Start von de Grasse beim Meeting in Monaco verhindert. Bolt reagierte mit öffentlichem Liebesentzug. „Der Letzte, über den ich gesagt habe, dass er ein Großer werden kann, hat sich respektlos verhalten“, erklärte Bolt in London. Das Alphatier des Sprints duldet keine aufmüpfigen Nebenbuhler, auch das gehört zum Gesamtkunstwerk Bolt.
„In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen Sportler – neben Muhammad Ali – erlebt, der die Menschen so in seinen Bann gezogen hat“, sagte Weltverbands-Präsident Sebastian Coe in London: „Ich bin großer Boxfan, daher wage ich diesen Vergleich: Damals, als Ali aufgehört hat, fragten sich auch alle plötzlich, wer ihm nachfolgen, wie es weitergehen werde. Das gleiche Szenario erlebt jetzt die Leichtathletik, weil Bolt abtreten wird. Die Antwort ist: Du ersetzt weder Ali noch Bolt!“