Wie oft er das schon erlebt hat – Martin Marianowicz hat aufgehört zu zählen. Immer wieder kommen Patienten montags in seine orthopädische Privatpraxis in München, erzählen ihm, dass sie sich am Wochenende den Knöchel verstaucht, den Arm verrenkt, das Knie verdreht hätten; dass sie im Krankenhaus geröntgt worden seien – und nach Hause geschickt. Mit der Bitte: „Gehen Sie am Montag zum Orthopäden.“ Da stehen sie dann, und Marianowicz fragt sie nach dem Röntgenbild. Die immer gleiche Antwort: „Das haben sie mir nicht mitgegeben.“ Wenn der Mediziner die Kollegen in der Klinik anruft und um das Bild bittet, wird auf Datenschutzgründe verwiesen. Er solle eine Schweigepflichtsenthebung schicken, dann bekomme er die Röntgenaufnahmen. „Bis ich sie tatsächlich habe, sind Tage vergangen“, ärgert sich der 65-Jährige. Die Konsequenz: Er muss selbst noch einmal Bilder machen. Unnötige Kosten für den Patienten. Und weiterer Beleg für eine These, die Marianowicz seit Jahren vertritt: „Wir leisten uns ein exorbitant teures Gesundheitssystem, das wir so nicht weiterführen können.“
Warum etwa gebe es noch immer keine digitale Gesundheitskarte, auf der die Krankheitsgeschichte des Patienten verzeichnet ist? Weil viele Menschen vielleicht Sorge haben, dass diese sensiblen Daten an den Arbeitgeber weitergegeben werden?, versucht man eine Erklärung. Just in dem Moment kommt die Kellnerin des Biergartens, in dem man sich an diesem Spätsommerabend mit Marianowicz getroffen hat, mit einer Liste an den Tisch. Ob man da bitte seine Daten notieren könne? Unter die Namen der anderen Gäste, Telefonnummer für Telefonnummer steht da, Name für Name. „Ha! So viel zum Thema Datenschutz!“, kommentiert Marianowicz trocken.
Natürlich würden bei einer elektronischen Patientenakte alle Daten diskret behandelt. „Da erfährt kein Arbeitgeber irgendetwas.“ Der wahre Grund, weshalb man den digitalen Weg, den Länder wie Großbritannien schon seit Langem beschritten haben, in Deutschland noch immer scheue, sei, dass sich auf analogem Weg so hübsch viel mehr Geld verdienen lasse.
Ein Beispiel: Eine Frau bricht auf der Straße zusammen. Der Notarzt bringt sie ins Krankenhaus. „Und dann geht’s los: Großes Labor, MRT, Schädelüberprüfung“, zählt Marianowicz auf. „Man fängt an, die Nadel im Heuhaufen zu suchen – was nicht nur Leben kostet, denn Time is Life, sondern auch Geld. Alle Geräte werden angeschmissen!“ Da könnte die Frau gerade vom Hausarzt gekommen sein, wo ein großes Blutbild gemacht wurde – weil davon aber keiner etwas weiß, wird’s in der Klinik noch mal gemacht. Doppelte Kosten. Ganz im Sinne des Systems. „Das will ja nicht weniger, das will immer mehr. Das will ja, dass das CT läuft.“ Auch auf die Gefahr hin, Menschenleben zu opfern? Marianowicz’ ernüchternde Überzeugung: „Das ist dem System völlig wurscht.“
Er hat über das alles ein Buch geschrieben. „Die Gesundheitslüge. Risiken und Nebenwirkungen eines kranken Systems“ lautet der knackige Titel. Und wer es liest, dem wird ein bisschen anders. 7,6 Minuten. So viel Zeit widmen sich deutsche Ärzte durchschnittlich einem Patienten beim Praxisbesuch. Zum Vergleich: In Schweden sind es 22,5 Minuten. Und das nicht, weil die Kollegen in Skandinavien mehr Interesse an den kranken Menschen hätten – in Deutschland können es sich viele Ärzte schlichtweg nicht mehr leisten, mehr Zeit aufzuwenden. „Wenn ein Kassenarzt in München 45 Euro für ein ganzes Quartal für die Behandlung eines Patienten erhält, ist der ist doch nicht zufrieden, dem macht das auch keinen Spaß, was der tut: Rumrennen wie im Hamsterrad.“
Aber wohin geht dann das viele Geld, das wir alle Monat für Monat an die Krankenkassen zahlen? „An einen Verwaltungsmoloch. Wir haben 109 gesetzliche Kassen, die eigentlich mehr oder weniger das Gleiche tun dürfen. Mit 109 Vorständen, mit 109 Verwaltungssitzen, mit 109 Dependancen in den Bundesländern. Das ist doch Irrsinn.“ Um das zu finanzieren, setze man auf eine Operation nach der anderen. Seit Jahren setzt sich Marianowicz für konventionelle Therapiemethoden ein; und dafür, die Menschen nicht immer gleich unters Messer zu legen, wenn ein Leiden da ist. Vergeblich. Warum? „Weil eine Operation der Klinik finanziell so viel bringt wie 30 Jahre konservative Behandlung.“ Das sei auch der Grund, weshalb es beispielsweise immer weniger Kinderstationen gebe. „Stattdessen setzt man auf Kaiserschnitte. Die sind viel lohnender – planbar, weniger Personalaufwand“, erklärt der Experte die groteske Entwicklung.
Doch was kann der Einzelne schon dagegen tun – wie kann man sich wehren gegen dieses System, an deren Reformierung schon fünf Bundesgesundheitsminister in Folge gescheitert sind? Marianowicz, seit 45 Jahren erfolgreich im Beruf, setzt auf die Jugend. „Ich glaube, dass das mit der neuen Generation nicht mehr so weitergeht. Man kann sich heute als Patient leichter informieren als früher. Und das tun sie. Wer weiß, der handelt anders.“ Für ihn sei es etwa nach wie vor unfassbar, dass ein Kassenversicherter nicht wisse, was für ihn abgerechnet wird. „Wenn die Leute wüssten, dass ein Kassenarzt für drei Monate konservative Behandlung 45 Euro bekommt, würden sie auch ganz anders über Ärzte denken. Jetzt werden doch viele in dem Glauben gelassen, in drei Minuten abgefertigt zu werden – und der Arzt verdiene sich dabei eine goldene Nase.“
Information also. Das sei das A und O. Und das ist, was er den Menschen mit seinem Buch geben möchte. Damit man sich als mündiger Bürger auch einmal traut, eine vorgeschlagene Behandlungsmethode abzulehnen. Es stimme schon, wir hätten eins der best ausgerüstetsten Gesundheitssysteme der Welt. Doch am Ende übertherapierten wir die Patienten und verkürzten so ihre Lebenserwartung. „Wir haben die Voraussetzungen, richtig gut dazustehen – trauen wir uns endlich, das System dahingehend zu verändern. Damit wir uns alle ein gesundes Leben leisten können.“
Martin Marianowicz:
„Die Gesundheitslüge“. Gräfe und Unzer Verlag München, 192 Seiten; 19,99 Euro.