Mühldorf – Räder, so weit das Auge reicht. Aus Gummi, Stahl und Holz. In allen Größen. Vom kleinen Laufrad für Kinder bis zum Hochrad mit über 50 Zoll. Mal 130 Jahre alt, mal nur ein paar Monate jung. Und mittendrin: der Pionier. Eine Nachbildung der ersten Laufmaschine von Karl Freiherr von Drais, der sich mit seiner bahnbrechenden Erfindung am 12. Juni 1817 von Mannheim in Richtung Schwetzingen aufmachte. 15 Kilometer war die Strecke lang, Drais benötigte für die 30 Kilometer lange Fahrt eine knappe Stunde, ein Viertel der damals für Postkutschen üblichen Zeit. Keine Frage: Die Draisine war der Beginn einer neuen Mobilität.
200 Jahre später ist aus der ersten Laufmaschine ein Massenverkehrsmittel geworden, das „sich mit der Weiterentwicklung zum E-Bike gerade wieder im Umbruch befindet“. Sagt Ivan Sojc, Leiter des deutschen Fahrradmuseums Bad Brückenau, der die Ausstellung im Mühldorfer Haberkasten tatkräftig unterstützt. Die Kooperation zwischen Stadtarchivar Edwin Hamberger und Museumsleiter Sojc ist ein Glücksfall. Zwar verfügt Mühldorf ebenfalls über eine kleine Fahrradsammlung, aber die echten Schmückstücke im Haberkasten-Obergeschoss sind Leihgaben aus Bad Brückenau. Und – mit Ausnahme der Laufmaschine – alles Originale.
Wie zum Beispiel das erste Tretkurbelrad aus dem Jahr 1868, das den Namen „Boneshaker“, also „Knochenschüttler“, trägt. „Der Name erklärt sich von selbst“, sagt Sojc, „wenn man die von den Pferdefuhrwerken ausgepflügten Wege vor Augen hat“. Fahrradfahren war noch längst kein Vergnügen. Aber ein Statussymbol. Und so kam es zum elegantesten Irrtum der Fahrradgeschichte – dem Hochrad. Bis zu 500 Goldmark teuer, konnten sich um 1875 nur die reiche Oberschicht und das Großbürgertum ein Hochrad leisten – inklusive Vollgummireifen und Drahtspeichen. Das Motto hieß: „Schneller fahren, höher fallen.“ Mit dem Körperschwerpunkt über dem großen Vorderrad gab es laut Sojc meistens nur einen Weg nach unten: „Kopfüber nach vorne. Und das bei jedem Schlagloch und jedem Stein.“
Auch aus anderen Gründen fand nicht jeder Gefallen an der neuen Art sich fortzubewegen. „Es gab Vorbehalte gegen das Hochrad. An Sport im heutigen Sinn war damals nicht zu denken, vor anderen zu schwitzen war nicht standesgemäß.“ Und doch war der Siegeszug des Fahrrads nicht mehr aufzuhalten. Bereits um 1880 kamen die ersten „Sicherheitsniederräder“ auf den Markt, sogar Ketten wurden schon verbaut. Die Hochrad-Szene beschimpfte die Niederradfahrer zwar als „Kriecher“, doch die Vorteile lagen auf der Hand: die Sturz- und Verletzungsgefahr wurde deutlich geringer. Mit dem „Sicherheitshochrad Star“, das ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist, gab es 1887 noch einen letzten Versuch, das Hochrad zu retten. Vergeblich: Die Zukunft gehörte den Niederrädern – auch, weil die Erfindung der Luftbereifung 1888 gerade zum richtigen Zeitpunkt kam. So ließ sich leichter treten, schneller fahren und sicherer ankommen. Um 1895 verschwanden die letzten Hochräder von den Straßen.
Fahrradfabriken entstanden, die Produktionszahlen stiegen, die Herstellungskosten sanken: Das Fahrrad wurde endlich auch für die Arbeiterschicht erschwinglich. Und war längst keine Männerdomäne mehr. An diesem Punkt wirft die Ausstellung ein Schlaglicht auf das Thema „Frau und Rad“, auf die vermeintlich wissenschaftlichen Bedenken (Radfahren galt zeitweise als „gebärunfreudig“), auf die Hindernisse in Sachen Bekleidung. Zu sehen ist eines der ersten Frauenfahrräder („Victor“ aus dem Jahr 1893) mit tiefem Einstieg sowie Ketten- und Speichenschutz gegen flatternde Damenröcke. Der Industrie war das Gespött der Männer egal, sie hatte um die Jahrhundertwende längst auch die Frauen als Zielgruppe im Blick.
Um eine weitere Themeninsel der Ausstellung kümmerte sich der örtliche Geschichtsverein Heimatbund um dessen Vorsitzenden Dr. Norbert Stellner, der an die Historie des Mühldorfer Velocipedclubs und die ersten lokalen Radrennen als Vorreiter des heutigen Motorsports in der Rennbahn erinnert. Außerdem natürlich an den Mühldorfer Josef Rambold und dessen Berichte über Radreisen um 1900.
Wurden die Räder zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch voller Stolz in die Fotokameras gehalten, erfüllten sie nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem einen praktischen Zweck. In den 1960er- und 1970er-Jahren folgte dann der Niedergang des Fahrrads. „Es galt als Verkehrsmittel der finanziell schlechter gestellten Bevölkerung und der Kinder“, erklärt Sojc. Neben vielen Sonderanfertigungen – mal mit Motor, mal mit Schleifstein, mal mit Radlaufglocke – zeigt die Ausstellung auch ein paar Modelle der 1970er- und 1980er-Jahre. Nicht fehlen darf da ein Bonanzarad, das bei vielen Buben einst ganz oben auf der Wunschliste stand.
In den 1980er- und 1990er- Jahren erlebte das Fahrrad eine Renaissance – als Sport- und Freizeitgerät sowie als dankbare Alternative in den verkehrsreichen Städten. Heute ist es aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Und wird – so Sojc – dank Pedelec und E-Bike weiter an Bedeutung gewinnen. Grund genug, einen Blick zurück zu werfen. Auf die Erfindung von Karl Freiherr von Drais. Und auf alles, was folgte. Rad für Rad.