Mühldorf – Der TSV 1860 München war deutscher Fußballmeister: „Alle waren fußballnarrisch, die Jungs im Dorf tobten auf dem Bolzplatz“, erinnert sich Karl Bürger an das Jahr 1966. Er tobte nicht. Mit Fußball konnte er noch nie viel anfangen. Damals war er zehn Jahre alt und sein liebster Platz war die Laderampe neben der Güterhalle auf dem Bahnhof in Walpertskirchen.
Der Bahnhof war damals eine typische Dorfstation auf der Strecke München-Mühldorf-Simbach. In jeder freien Minute, und von denen gab es damals nicht viele, beobachtete er die Dampflokomotiven und das Treiben auf dem Bahnhof. Nein: Dies ist nicht der Auftakt zu einer romantischen, nostalgischen Rückschau regionaler Bahngeschichte – aber dennoch ganz wichtig, um zu verstehen, warum Karl Bürger ein akribisch recherchiertes, über 270 Seiten starkes Buch im DIN4-Format über die Bahnstrecke München-Mühldorf-Simbach geschrieben hat.
„Ich wollte nichts verklären.“Karl Bürger
Das Buch hat viele Facetten. Es bietet nicht nur für Eisenbahnfreunde fundierte Geschichte und unzählige Abbildungen, Fotos, Tickets, Fahrpläne, Karten und Listen. Es wirft auch einen Blick auf das Alltagsleben der 1960er- und 1970er-Jahre; etwa auf Frauen, die um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie arbeiten wollten; oder auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Und es ist ein detailreiches Lehrstück über Verkehrspolitik und erklärt zum Beispiel, warum die Strecke nach Mühldorf immer noch nicht zweigleisig ist.
Ein Buch mit sehr vielen Bildern, aber eben kein Bilderbuch über „eine gute, alte Zeit“. Genau das wollte Karl Bürger auch nicht: „Die 1960er waren eine reaktionäre Zeit. Da war nix schön. Ich wollte nichts verklären.“ So kann man etwa lesen, wie er als Bub mit seinem Großvater, für den Freizeit nichts Unmoralisches oder Verwerfliches war wie für viele andere damals, zum Bahnhof spazierte und mitansehen musste, wie eine Abbaukolonne das Stellwerk, Signale, Weichen und Gleise abrissen. Sein Lieblingsplatz gab nur noch ein trostloses Bild ab. Lediglich das Betriebsgebäude blieb stehen.
Auf den Außenwänden waren weiße Pfeile angebracht. „Das waren Überbleibsel aus Kriegstagen. Die Pfeile wiesen den Weg zu Schutzräumen bei Luftangriffen“, erklärt er. Als er als Kind jemanden fragte, was die Pfeile zu bedeuten hätten, bekam er zu hören: „Des gäht di nix o! Schau, dass d’machst, wos i dir ogschafft hob!“ An die Kriegszeit wollten die Erwachsenen nicht erinnert werden, kommentiert Bürger.
Weil er unter anderem auch solche Geschichten erzählen wollte, hat er sein Buch in Eigenregie herausgebracht. „Ich habe mich gar nicht erst an Verlage gewendet, weil ich das noch von meinem ersten Buch kannte. Die wollen in erster Linie schöne Bilder sehen. Wissenswertes über Verkehrspolitik ist zweitrangig“, so seine Erfahrung. Sein erstes Buch heißt „Von königlich bayerischen Zeiten zur S-Bahn und Flughafenbahn“.
Heute ist er 61 Jahre alt. Kaum dass er in Rente ging, setzte er sein erstes Buchprojekt um. Schreiben liegt ihm. „Wenn ich erst mal angefangen habe, fällt mir immer noch was ein, und oft wird es dann 1 oder 2 Uhr morgens, bis ich fertig werde.“
Kein Wunder, Fachwissen hat er im Laufe der Jahre genug gesammelt. Als 1989 die Haltestelle in Walpertskirchen geschlossen werden sollte, gründete er den Arbeitskreis Pro Bahn Walpertskirchen und kämpfte für den Erhalt. „Damals bin ich belächelt worden.“ Aber dass der Ort heute fast 2000 Einwohner zählt, hänge sicherlich auch damit zusammen, dass man in gut 23 Minuten mit der Bahn am Ostbahnhof sein kann, vermutet er.
Der passionierte Bahnfahrer hat sich im Lauf der Zeit so intensiv mit der Strecke München-Mühldorf-Simbach befasst, dass er ihr sein zweites Buch widmete. Der Untertitel „Glanz, Niedergang und Renaissance einer königlich bayerischen Eisenbahn“ beschreibt den weiten Bogen, den er thematisch spannt. Das Buch beginnt bei der Entstehung der Strecke in den 1860er-Jahren. In der Glanzzeit fuhr dort auch der berühmte Orientexpress, „der Zug aller Züge“, auf dem Weg von Paris nach Wien. Gehalten hat der exklusive Zug aber nur in Simbach, und dort auch nur wegen der Grenzabfertigung. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Mobilmachung war der Traum von der Magistrale vorbei. Die Zeit danach beschreibt Karl Bürger als einen fast Hundert Jahre dauernden Stillstand mit wenigen Neuerungen.
Renaissance ist für den Autor die Rolle, die der Strecke im Rahmen der Ausbaustrecke 38 München-Mühldorf – Freilassing zukommen soll. Er beschreibt im Detail, wie die Planungen einst aussahen, was tatsächlich gebaut wurde und was von den Planungen heute noch übrig geblieben ist.
Neben diesen Hauptsträngen werden in dem Buch auch längst stillgelegte Zweigstrecken ausführlich beleuchtet, wie etwa die ehemalige Dampfstraßenbahn Neuötting-Altötting und die Industriebahnen entlang des Isarkanals und hinunter zum Töginger Innwerk. Wer erinnert sich schon noch daran, dass die Bundesbahn die Strecke von Töging nach Simbach einst stilllegen wollte? „Wegen dem Anschluss an die drei Kurorte ist das dann damals nicht gemacht worden.“
Ein weiter Bogen von 1860 bis heute
Auch die Projekte Erdinger Ringschluss und Walpertskirchener Spange sind Thema. Selbstverständlich fehlt auch nicht die Frage, wie ein Flughafen im eisenbahnlosen Erdinger Moos entstehen konnte. Recherchiert hat Bürger in den Stadtarchiven Mühldorf, Simbach, im Museum Erding sowie bei diversen Fachautoren. Zu sehen ist etwa ein Mühldorfer Fahrplan aus dem Jahr 1964/65 mit Werbeanzeigen lokaler Betriebe: Brauerei Erharting, Sanitärbetrieb Josef Herzinger.
Zudem wirft der Autor einen Blick in die Zukunft: Er befürchtet, dass die Bahn den Anschluss an die nächste Verkehrsrevolution verpassen könnte. Fahren auf den Straßen vielleicht bald autonome Autos und auf den Gleisen Modelle fürs Museum?
Sein erstes Buch hatte eine Auflage von 1000 Exemplaren und ist fast ausverkauft. Sein zweites Buch hat eine Auflage von 1300 Exemplaren. 250 Vorbestellungen liegen bereits vor. Für das Buch ist er mit 17000 Euro in Vorleistung gegangen. Aber seine Erfahrungen mit dem ersten Buch stimmen ihn optimistisch, das Geld gut investiert zu haben.
Eigentlich würde man erwarten, dass jemand, der so eine Leidenschaft für Züge und Bahnhöfe hegt, auch beruflich bei der Bahn landet. Nicht so Karl Bürger. Sein Vater ist als Spätheimkehrer bei der Bahn untergekommen. „Das war damals ein streng hierarchischer Staatsbetrieb. Das wäre nichts für mich gewesen“, so der heute 61-Jährige. Er entschied sich für eine juristische Ausbildung und war über 40 Jahre in der Rechtsabteilung eines großen Konzerns am Standort München tätig, wohin er selbstredend von Walpertskirchen aus täglich mit der Bahn pendelte. Als passionierter Bahnfahrer kann er nach wie vor nicht verstehen, dass „viele lieber mit ihren SUV auf den Straßen fahren und im Stau stehen anstatt auf Bahn umzusteigen“.
Sein nächstes Projekt ist bereits in Arbeit. Im dritten Band wird es um die bayerische Tauernbahn gehen, also um die Verbindung von Landshut-Mühldorf-Freilassing. Untertitel: „Von Bimmelbahnen zur Ausbaustrecke.“ Wieder voller kurioser Geschichten, so Bürger.