Pandemie wird zur seelischen Belastung

von Redaktion

Interview Dr. Martin Greetfeld erklärt, was Existenzängste mit Menschen machen

Rosenheim/Prien – Der Lockdown hinterlässt bei vielen Unternehmen verbrannte Erde. Und plötzlich ist sie bei vielen Menschen da, die Angst um die Arbeit, die Zukunft, die Existenz. Ein Gespräch mit Dr. Martin Greetfeld, Chefarzt für Psychosomatik und Psychotherapie in der Priener Schön Klinik Roseneck, über Therapien, Selbstschutz und die Auswirkungen der Pandemie auf die Gesellschaft.

Ist Existenzangst die seelische Krankheit unserer Zeit?

Als Psychosomatiker und Psychiater würde ich es andersherum formulieren. Ängste, auch existenzielle Ängste, kommen bei vielen psychischen Erkrankungen vor, wie zum Beispiel bei Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen. Die Ursachen für psychische Erkrankungen sind stets eine Mischung aus psychologischen, sozialen, aber auch biologischen Faktoren und somit vielgestaltig wie das Leben selbst. Ich denke, dass jede Zeit bestimmte psychologische und sozialen Stressfaktoren hat. Ich bin überzeugt, dass die Pandemiesituation somit einen großen Einfluss auf psychische Erkrankungen hat, insbesondere bei verletzlichen Personen.

Viele Unternehmer und Selbstständige müssen dabei zusehen, wie der eigene Lebenstraum zerstört wird, und können nichts dagegen tun. Was macht das mit einem Menschen?

Wenn das eigene Lebenswerk in Gefahr ist, ist der Stressfaktor vielleicht noch größer. Wenn man das Unternehmen selbst aufgebaut hat und es jemand aus der Familie irgendwann übernehmen sollte, kann die Lockdown-Situation extrem weitreichende Einflüsse bis hinein in die Familienstruktur haben.

Manchmal wollen Menschen aber trotzdem keine Hilfe annehmen?

Ich erlebe häufig, dass Personen in diesen existenziellen Nöten sich gar nicht erlauben, intensive psychosomatisch-psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Obwohl sie es nötig hätten. Nach dem Motto: „Ich kann mein Geschäft jetzt nicht allein lassen“.

Kann man sich daran gewöhnen, dass man sich in diesen Situationen hilflos fühlt?

Nein, das denke ich nicht. Anders herum: In der Forschung zur Entstehung depressiver Erkrankungen gibt es das Konzept der erlernten Hilflosigkeit. Der Mensch erlernt also, dass die Umstände nicht kontrollierbar sind, unabhängig davon, was er tut. Ich finde, das trifft auf die aktuelle Situation gut zu.

Wie helfen Sie Patienten in der Klinik?

Für Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen gibt es wissenschaftlich fundierte Behandlungskonzepte, auf die wir bauen. Die Arbeit an individuellen Belastungsfaktoren ist ganz zentral. Bei uns therapieren Ärzten, Psychologen, Bewegungs-, Kunst- und Ernährungstherapeuten. Wichtig kann auch sein, die Sozialtherapie einzubeziehen. Sie unterstützt bei Fragen zu finanziellen, sozialen oder Versicherungsaspekten. In Zeiten von Corona ist die Schwelle, in eine Klinik zur Behandlung zu gehen, noch einmal höher.

Warum?

Betroffene überlegen es sich zweimal, ob sie in so einer Zeit ihr gewohntes Umfeld verlassen. Manche haben auch einfach Angst vor Ansteckung, trotz Hygienekonzepten in der Klinik.

Wie kann man sich selbst schützen, wenn man merkt, dass die psychische Belastung zunimmt?

Man sollte für einen guten Ausgleich sorgen, den Tag strukturieren und ausreichend schlafen. Pausen zu machen und die Mahlzeitenstruktur einzuhalten, ist wichtig. Außerdem helfen Ausdauersport und Zeit mit Familie und Freunden. Besonders vorsichtig sollte man im Umgang mit Alkohol und Medikamenten, zum Beispiel Schlafmitteln, sein. Wenn die Belastung überhandnimmt, dann ist professionelle Hilfe sinnvoll.

Welche langfristigen Auswirkungen hat diese Pandemie auf die Psyche und das Bewusstsein der Menschen in der Gesellschaft?

Das ist aktuell noch schwer abzuschätzen. Wir rechnen mit Patienten, die nicht nur durch das Thema Existenzangst einer hohen Belastung ausgesetzt waren, sondern zum Beispiel auch durch Krankheit oder den Tod eines Angehörigen. Natürlich können Ansteckungsängste bei Menschen mit Ängsten oder Zwängen zu einer Verschlechterung der Krankheit führen. Außerdem wurde die Entwicklung häuslicher Gewalt in Zeiten von Lockdown und Homeschooling immer wieder in den Medien angesprochen. Auch hier sind Auswirkungen auf die seelische Gesundheit zu erwarten. Ich denke, dass die Pandemie Menschen prägen wird, weil sie Verlust von Kontrolle erfahren. Andererseits sind auch Familien enger zusammengerückt, und soziale Bande können sich verstärkt haben.Interview: Alexandra Schöne

Artikel 1 von 11