Eine fast normale Familie

von Redaktion

Heidi Harrer ist Pflegemutter für Kinder, die keiner will

Mühldorf/Töging – „Jedes dieser Kinder hat eine Chance verdient“, das steht für Heidi Harrer fest. Seit 20 Jahren ist sie Pflegemutter für Kinder, die sonst keiner will. Sie erzählt, was sie antreibt.

Jahr für Jahr sucht das Mühldorfer Jugendamt Pflegeeltern für Kinder, die in ihrer Familie nicht aufwachsen können. Meistens ist die Nachfrage nach solchen Pflegeeltern höher als das Angebot. Heidi Harrer hat sich der Aufgabe schon seit Jahren angenommen.

60 Kinder in 20 Jahren. So viele Mädchen und Jungen haben bei ihr eine Heimat auf Zeit gefunden. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie sich dazu entschlossen, Kindern mit Startschwierigkeiten ein Zuhause zu geben. Und das nicht heiß begehrten Babys, sondern Kindern, die ihren schweren, familiären Rucksack schon ein paar Jahre zu schleppen hatten: „Wir wollten die Kinder, die sonst keiner will.“ Seit dem zu frühen Tod ihres Mannes ist die 62-Jährige alleine für sie da.

Pflegemutter wurde zur „Mama“

„In Notfällen waren die Kinder nur wenige Tage bei uns“, berichtet die Tögingerin. „Ein Mädchen kam als Sechsjährige zu uns und ist 20 Jahre geblieben.“ Dieses Mädchen, besser gesagt diese junge Frau, gründet gerade ihre eigene Familie. Heidi Harrer wurde über die Jahre zu ihrer „Mama“ und soll demnächst auch ihre Brautmutter sein.

Sie und zwei andere der mittlerweile erwachsenen Pflegekinder tragen seit einigen Jahren auch den Nachnamen ihrer Pflegemutter. Sie wollten adoptiert werden. Getan hat sie es, als die drei volljährig waren, als die leiblichen Eltern nicht mehr zustimmen mussten.

In den Jahren, bis es so weit war, hat Heidi Harrer in ihrer Erziehung klare Linien aufgezeigt und Bedingungen gestellt. „Jedes meiner Kinder musste und muss eine Ausbildung machen und arbeiten.“ Sie sollen auf eigenen Füßen stehen. So haben sie und ihr Mann es den Pflegekindern immer vorgelebt. „Ich fand es gut, wenn sie mich vom Geschäft abgeholt und gesehen haben, dass Arbeit zum Leben gehört.“ Es ist ihr anzumerken, dass sie mit viel Herz, aber auch mit Durchsetzungskraft erzieht.

Ihr Haus teilt sie mit sechs Kindern beziehungsweise jungen Erwachsenen im Alter von elf Jahren bis über 20. Jeder hat seine Aufgaben. „Wir haben ein ganz normales Familienleben“, sagt sie. „Auch Jungs müssen putzen!“ Dass sie als Frau Chefin und Kopf der zusammengewürfelten Familie ist, mussten auch ihre muslimischen Pflegesöhne akzeptieren. „Ab und zu kommt ein Schweinebraten auf den Tisch“, lacht die Pflegemama. „Die zwei bekommen dann etwas anderes zu essen.“

Sie war bereit, wenn Not am Kind war und der Pflegekinderdienst rief.

Egal ob für eine Elfjährige vier Tage vor Weihnachten und Harrer noch einmal los ist, um auch für dieses Mädchen Weihnachtsgeschenke zu haben. Wenn es darum ging, einen Zwölfjährigen aus seiner Unterkunft, einer kargen Turnhalle, in ein gemütliches Haus zu holen.

Oder wie kurz vor Pfingsten, als der Pflegekinderdienst Mühldorf händeringend eine vorübergehende Pflegestelle für drei kleine Kinder – eineinhalb Wochen, ein und drei Jahre alt – gesucht hat. Für sie und für ihre Kinder war klar, dass sie helfen müssen. „Du hast uns auch geholfen, haben sie gesagt“, erinnert sich Harrer gerührt, und das haben sie mit vereinten Kräften getan. Vier Tage waren die drei Kleinkinder bei ihnen.

Heidi Harrer, die keine eigenen Kinder hat, ist stolz auf ihre Pflegekinder. Sie steht hinter ihnen, gibt ihnen Stärke mit auf ihrem nicht leichten Lebensweg. Sie ist mit Herz und Liebe für sie da und bekommt das von ihren Zöglingen zurück. Ihre Mama sei sie, und nicht die Frau, die sie zufällig zur Welt gebracht habe, hat eine der Töchter ihr einmal erklärt. Harrer hat es oft erleben müssen, dass die echten Mütter oder Eltern angekündigt haben, ihre Kinder wieder zu sich holen, sie zu „retten“. „Nur, passiert ist das nie.“

Der Pflegekinderdienst (PKD) ist der Puffer zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie. Und steht den Pflegeeltern mit Rat und Tat zur Seite. Bietet alle vier Wochen eine Supervision an und den Austausch mit anderen Pflegefamilien. „Pflegeeltern wird viel abverlangt, es ist wichtig, sich zu vernetzen“, weiß Heidi Harrer. „Sie müssen auf sich aufpassen, sich nicht überfrachten und auch einmal Nein sagen.“ Harrer ist Vorsitzende des Vereins „Pfad für Kinder Altötting-Mühldorf“. So heißt der Verband, der in der Region an Inn und Salzach Pflege- und Adoptivfamilien zusammenbringt und unterstützt.

Jetzt soll es ruhiger werden

Mit Notfalleinsätzen und der Aufnahme neuer Kinder soll es für Heidi Harrer aber künftig vorbei sein. Die 62-Jährige ist mittlerweile in Rente und will privat kürzertreten. „Zurückfahren“, wie sie es nennt. Ihren fast Zwölfjährigen will sie noch großziehen – und adoptieren, wenn er erwachsen ist und einen Beruf erlernt hat. Da macht sie keine Ausnahme. Wie stark sie mit ihrem Vorbild und ihrer Erziehung auf ihre Kinder gewirkt hat, zeigt wohl der Plan einer ihrer Töchter: „Sie überlegt, selbst einmal Pflegemutter zu werden.“ Die vielleicht schönste Anerkennung für das gelungene Lebenswerk von Pflege-Mama Heidi.

Vom Neugeborenen bis zum Teenie

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