Waldkraiburg – Wegen Kinkerlitzchen würde Stadtarchivar Konrad Kern seine Urlaubsplanungen natürlich nicht auf den Kopf stellen. Völlig anders schaut es aus, wenn Magister Tomáš Cidlina seinen Besuch ankündigt. Am Samstag war es so weit: Kern konnte den Historiker am Heimatlichen Museum in Böhmisch-Leipa im Waldkraiburger Rathaus empfangen. Der Stadtarchivar verlegte deswegen extra seinen Urlaub.
Die beiden Herren sind quasi Seelenverwandte im Hinblick auf Interesse und Wissen historischer Vorgänge, die das Haidaer Heimatarchiv zum Inhalt hat. Vor wenigen Monaten siedelte das Archiv von Waldkraiburg nach Tschechien um. Die aus Böhmisch-Leipa stammende Maria Bürger begann in Waldkraiburg ab etwa 1970, eine Heimatsammlung aufzubauen, die sich später zu einem bedeutenden Archiv entwickelte.
Ein Höhepunkt in der
beruflichen Laufbahn
Im Frühjahr kehrten die Zeitdokumente in ihre tschechische Heimat zurück. „Das ist eines der größten Ereignisse in meiner bisherigen beruflichen Laufbahn“, betont Cidlina, und Konrad Kern lächelt zufrieden bei dieser Aussage. Ein Archiv aus der Hand zu geben, sei für einen Archivar eigentlich unvorstellbar, meint Kern, und doch entschied er sich für diese Maßnahme, der ein längerer Prozess vorausging.
Der Bestand des Archivs umfasst rund 75 Regalmeter, darunter tausende Fotos, Ansichtskarten, persönliche Dokumente, Karteien, Landkarten, Gemälde, Bücher und auch einige museale Objekte. Das Material wurde Anfang April in 50 Bananenkisten, vielen weiteren Schachteln und Planmappen verladen. Im Juni sind nochmals 40 Kartons auf die Reise gegangen.
Das Archiv wird am Heimatlichen Museum Böhmisch-Leipa größtenteils digitalisiert und unter dem Namen „Waldkraiburgensia“ geführt.
Warum sich der Waldkraiburger Stadtarchivar von „seinem“ Heimatarchiv trennte, hat einen traurigen Grund.
Fehlendes Interesse
in Waldkraiburg
Das Interesse am Archiv sei einfach nicht mehr da gewesen, zum Schluss versank es gar im Dornröschenschlaf. Das Heimatarchiv wartet jedoch mit einer langen und interessanten Geschichte auf, zu der auch das Haidaer Fest gehört, das in Waldkraiburg im August 1952 zum ersten Mal stattfand. Dieses Fest entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem großen Heimattreffen, welches aber aus Mangel an Teilnehmern 2011 zum letzten Mal im Kalender stand.
Die vor 54 Jahren durch Maria Bürger gegründete Heimatsammlung wurde im Jahre 1981 an Erika Rahnsch weitergegeben. Seither ist ihr Name untrennbar mit dem Archiv verbunden. Die Sammlung wuchs und musste daher mehrere Umzüge verkraften. Im November 1988 gründete sich der Verein zur Sammlung und Bewahrung des Kulturgutes der Vertriebenen in Waldkraiburg. Er ist Träger des Archivs. Der Verein nennt sich seit 1996 „Förderverein Stadtmuseum Waldkraiburg“. Zwei Jahre später entschloss sich der Verein, das Heimatarchiv an die Stadt Waldkraiburg anzugliedern.
Kamen in früheren Zeiten immer wieder Besucher ins Archiv, manchmal auch Tschechen aus Böhmisch-Leipa, Haida und anderen Orten, so wurde es in den letzten Jahren in den Räumlichkeiten immer stiller.
Konrad Kern, der 2018 die Archivbetreuung übernahm, besuchte im März 2023 eine Tagung des Sudetendeutschen Museums in München und berichtet: „Dort erfuhr ich von der Übergabe des Heimatarchivs Tetschen-Bodenbach an das Staatsarchiv im Schloss von Decin. Vorher lagerte das Archiv Jahrzehnte in Nördlingen. In mir reifte der Entschluss, mit dem Haidaer Archiv ähnlich zu verfahren.“
Kern knüpfte entsprechende Kontakte und besprach sich mit vielen Personen, die mit dem Archiv in Verbindung stehen. Tomáš Cidlina, Michal Radl vom Kreisarchiv Ceska Lípa und Petr Joza vom Kreisarchiv Decin besuchten im September 2023 Waldkraiburg, um die Bedingungen für die Übergabe zu klären. Das in Waldkraiburg tote Archiv sollte in Böhmisch-Leipa wieder zum Leben erweckt werden.
Große Emotionen und
eine wunderbare Idee
Tomáš Cidlina sprach von großen Emotionen und einer wunderbaren Idee Kerns. Der 42-jährige Historiker gab in seiner Heimat extra eine Pressekonferenz und hielt einen Vortrag über Waldkraiburg. Im November plant Tomas Cidlina eine Ausstellung, zu der auch Kern anreisen will. Außerdem möchte der Förderverein Stadtmuseum Waldkraiburg 2025 in Kooperation mit Tomáš Cidlina eine Studienreise nach Nordböhmen organisieren unter dem Motto „Waldkraiburg besucht seine Wurzeln“.
Der tschechische Historiker und seine Frau Jitka trafen letzte Woche im Rahmen eines Bayern-Urlaubs sehr zur Freude Kerns auch in Waldkraiburg ein. „Ich trenne mich nun noch von den allerletzten Beständen des Archivs und gebe sie Tomáš mit“, verkündet Kern und ergänzt: „Bei ihm sind diese historischen Schätze in den besten Händen, das weiß ich ganz genau.“