Im Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder Roland B. erheben Anwohner Vorwürfe gegen die Behörden. B. habe seiner ehemaligen Lebensgefährtin Tsin-Ieh L. jahrelang nachgestellt, diese habe immer wieder um Hilfe ersucht. Doch man habe ihn nicht wirksam gehindert. Letztlich wurde Tsin-Ieh L. brutal ermordet.
Dass sich Liebe in Wut verwandelt, gehört zum Wesen einer Trennung. Dass aus Liebe Hass wird, auch das kommt vor. Es sind gerade diese Fälle, die mitunter später vor Gericht landen. Weil es zu gewalttätigen Übergriffen kam – oder gar zu tödlichen Verbrechen.
Fast sieben Jahre war es her, dass Tsin-Ieh L. sich von ihrem Lebensgefährten Roland B. getrennt hatte. Doch diese Trennung hatte dem Architekten keine Ruhe gelassen, auch nach klärenden Gesprächen nicht. Sieben Jahre lang hatte er ihr nachgestellt. Am 16. August 2016 wurde sie erstochen aufgefunden, mutmaßlich ermordet von B., der seit Mittwoch vor Gericht steht – und eisern schweigt.
„Sie lebte in ständiger Angst vor ihm“, berichten Anwohner nun am dritten Verhandlungstag. Laut Anklage beging B. die Tat aus niederen Beweggründen, weil Tsin-Ieh L. keinen Kontakt mehr zu ihm wollte. Nicht mehr zu sprechen, nicht mehr zu telefonieren: Das konnte Roland B. demnach nie akzeptieren. Dutzende Male hatte er Tsin-Ieh L. bedrängt, bis er Ende Februar 2014 sogar vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Doch das hielt ihn nicht ab. Er schrieb E-Mails, reiste seiner Ex-Freundin hinterher und manipulierte ihr Fahrrad an der Bayrischzeller Straße – wohl um zeigen, wie nahe er ihr sein kann, wenn er will.
Anwohner und Polizisten geben am Freitag Einblicke in die Tortur, die Tsin-Ieh L. seit Herbst 2009 mitmachen musste. „Wir haben uns oft gesehen. Sie traute sich kaum noch allein aus dem Haus“, sagt Nachbarin Rita S. (66). Von der Polizei habe sie aber keinen Schutz erhalten.
„Wir haben auf sie aufgepasst, so gut es ging. Bei uns war sie gut aufgehoben“, sagt Rita S. Die Hausgemeinschaft in Obergiesing sei intakt gewesen. Dort hatte das spätere Mordopfer sogar Flugblätter verteilt, um vor Roland B. zu warnen. „Sie hatte Angst, dass er sie umbringt“, sagt S. aus. „Das hat sie so zu mir gesagt.“ Die Nachbarin spricht langsam und bedacht. Dreimal wiederholt sie die Worte von Tsin-Ieh L., die alle immer nur Jeanny nannten: „Irgendwann wird er mich mal umbringen.“
Den Ernst der Lage ahnte Tsin-Ieh L. – und zeigte Roland B. mehrfach an. Doch am Ende konnten die Behörden ihr nicht helfen. Nach Jahren des Stalkings wurde sie im August 2016 laut Anklage mit 18 Messerstichen niedergestochen. Zwei Tage später hätte ein erneuter Stalking-Prozess gegen Roland B. vor dem Amtsgericht stattgefunden – zu spät.
Mittlerweile wurde das Stalking-Gesetz (§238 StGB) geändert: „Vom Erfolgsdelikt zum Gefährdungsdelikt“, erklärt Polizeisprecher Werner Kraus. Seit März 2017 sei der Tatbestand erfüllt, wenn eine Person aufgrund der Nachstellung ihre Lebensumstände ändern müsse. „Der Beschuldigte wird dann zur Vernehmung geladen.“ Es folgt eine Gefährderansprache. Und im Wiederholungsfall die Festnahme. Stalkern drohen Haftstrafen bis zu drei Jahren.
Um Gewalttaten zu verhindern, gebe es Maßnahmen für den Extremfall – etwa dass Polizeistreifen unregelmäßig das Haus der potenziellen Opfers abfahren. „Oder die ständige Begleitung bei konkreter Gefahr“, sagt Kraus.
Tsin-Ieh L. hat diesen Schutz nicht erhalten. Ein Nachbar hatte sie nach der Tat noch wiederzubeleben versucht. „Ich zog mein Hemd aus und drückte es auf ihre Wunden“, sagt er. Zu spät, L. verblutete binnen Minuten. Richter Höhne dankt dem Zeugen trotzdem für sein beherztes Eingreifen: „Auch ein Profi hätte sie nicht mehr retten können.“ Andreas Thieme