Der Verlust als Chance. Davon spricht jeder Psychologe, wenn es um Trennungen geht. Dass dieses Prinzip auch in der Kunst funktioniert, beweist Pia Lanzingers Projekt „Zeitkapsel Hasenbergl“. Am Anfang ihrer ungewöhnlichen Aktion stand nämlich auch ein Verlust – der Verlust eines bedeutenden Objekts der Stadtgeschichte. Vor fünf Jahren verschwand die Zeitkapsel des Hasenbergls. Jene Kapsel, die Altoberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) 1960 in den Grundstein des damals neuen Münchner Stadtviertels gelegt hatte. Wahrscheinlich wurde sie bei Umbau- und Abrissarbeiten versehentlich entsorgt.
Ursprünglich steckte die Kapsel, gefüllt mit damaligen Geldscheinen, Zeitungen und Bebauungsplänen, im Sockel eines Pferdedenkmals vor der Post an der Blodigstraße. Die Post wurde abgerissen, der Sockel auch, die Kapsel war auf einmal weg. Nur das Bronzepferd gibt es noch. Es steht heute einige Meter weiter südlich vor dem Kulturzentrum 2411 auf einem neuen Sockel. Und dieser Sockel bekommt am Donnerstag, 19. Oktober, eine neue Zeitkapsel.
Verantwortlich dafür ist die Künstlerin Pia Lanzinger. Sie selbst ist im Hasenbergl aufgewachsen und hat dort eine glückliche Kindheit verbracht. Heute lebt sie in Berlin. Ihrer alten Heimat aber fühlt sie sich nach wie vor verbunden. So entstand die Idee, dem Hasenbergl eine neue Zeitkapsel zu schenken – eine, die mit dem Viertel mehr zu tun hat als alte Banknoten, Zeitungen und Baupläne.
Lanzingers Idee: Sie wollte „Zeitboten“ aufspüren und interviewen. Damit gemeint sind Menschen, die eine besondere Geschichte mit den Hasenbergl verbindet. Das können ehemalige oder aktuelle Bewohner sein, aber auch Leute, die hier arbeiten oder aus völlig anderen Gründen einen Bezug zum Stadtteil entwickelt haben.
Die Resonanz war groß. 70 Menschen erzählten Pia Lanzinger letztlich ihre Hasenbergl-Geschichte. Alle wurden sie dabei von der Künstlerin gefilmt. „Dass es genau 70 waren, war Zufall“, sagt Lanzinger. Unter den Zeitboten sind Menschen aller Art. Einige Prominente haben mitgemacht, etwa die SPD-Altoberbürgermeister Christian Ude und Hans-Jochen Vogel, der ja einst den Grundstein gelegt hat. Auch der CSU-Landtagsabgeordnete Joachim Unterländer nahm teil, das „erste deutsche Playmate“ und Model Ursula Buchfellner, daneben zahlreiche Stadtteilpolitiker, Künstler, ganz normale Münchner und viele waschechte Hasenbergler.
Einer davon ist Willy Astor. Der Musiker und Komiker lebte von 1962 bis 1983 an der Ittlingerstraße. Diese Jahreszahlen sind auch auf sein persönliches Zeitboten-T-Shirt gedruckt. Wie Pia Lanzinger erlebte auch er seine Kindheit im oft als sozialer Brennpunkt verschrienen Viertel äußerst glücklich: „Das Hasenbergl ist für mich eine Säule in meinem Leben, das sind meine Wurzeln. Es hat natürlich auch sehr viel Bodenständigkeit in mir geschaffen“, berichtet er.
In seinem Zeitboten-Video erinnert sich Astor an jugendliche Fußballspiele und einen hochtalentierten Kumpel, den „Ronaldo vom Hasenbergl“, außerdem an die alte Mathäserschänke, „wo am Sonntag in der Früh um zehn schon die ersten Bierleichen gestanden waren“.
Die Interviews mit den Zeitboten sollen am Donnerstag in der neuen Zeitkapsel landen – auf einer DVD und auf einem Speicherstick. Dazu kommt noch eine gedruckte Publikation zu Pia Lanzingers Kunstaktion. Sie selbst darf die neue Zeitkapsel am 19. Oktober vor Publikum befüllen. Das Objekt besteht aus rostfreiem Metall und wurde in Straubing angefertigt. Ab 17 Uhr kommt es wieder zum Pferd, wird in einer Ecke des Denkmalsockels versenkt und mit einer Bronzeplatte bedeckt.
Für diese geschichtsträchtige Aktion konnte Lanzinger einen ganz besonderen Gast gewinnen: Wie schon bei der ersten Zeitkapsel vor 50 Jahren will Hans-Jochen Vogel auch diesmal dem Hasenbergl seinen Segen geben. katrin Hildebrand
Alle Videos
sind unter www.zeitkapsel-hasenbergl.de zu sehen.