„Zur Beachtung!“, heißt es in nüchternem Deutsch auf dem Briefpapier, das die Häftlinge des Strafgefängnisses Stadelheim benutzen dürfen. Es folgen eine Reihe von Vorschriften, etwa: „Briefe deutlich und mit Tinte schreiben!“ Die Zeilen, die Willi Graf am 12. Oktober 1943 verfasst, sind in einer klaren, leserlichen Handschrift verfasst – erstaunlich gefasst und aufgeräumt für einen Menschen, der seiner Familie schreibt: „An diesem Tag werde ich aus dem Leben scheiden und in die Ewigkeit gehen.“
Nur 25 Jahre zuvor, am 2. Januar 1918, wird Wilhelm, genannt Willi, Graf in Kuchenheim bei Euskirchen geboren. Seine Eltern, der Kaufmann Gerhard Graf und dessen Frau Anna haben noch zwei Töchter. Die Familie ist tief gläubig, auch Willi wird stark vom katholischen Milieu geprägt. Als der Bub vier Jahre alt ist, zieht die Familie nach Saarbrücken, wo Willi 1937 sein Abitur macht.
Er schreibt sich für ein Medizinstudium in Bonn ein. Wegen „bündischer Umtriebe“ – der Student hatte sich einer katholischen Organisation angeschlossen – verhaftet ihn die Geheime Staatspolizei (Gestapo), er sitzt einige Wochen in Untersuchungshaft. 1939 wechselt er an die Münchner Universität, wird aber mit Kriegsausbruch zum Sanitätssoldaten ausgebildet. Graf erlebt die Schrecken des Krieges; auch die Verfolgung der Juden. „Sehr viel Elend muss man hier anschauen“, schreibt er in einem Brief über das Warschauer Ghetto. Graf hadert mit dem NS-Regime, sucht Halt in seinem Glauben.
Als er schließlich in eine Münchner Studentenkompanie versetzt wird, kommt es zu einer Begegnung, die den jungen Mann binnen weniger Monate zu einem zentralen Akteur der deutschen Widerstandsgeschichte machen sollte. Im Juni 1942 lernt er den Kommilitonen Hans Scholl kennen; schnell werden die beiden Freunde. Wie groß das Vertrauen zueinander ist, zeigt sich in der Geschwindigkeit, mit der Scholl den Kameraden in seine geheimen Aktivitäten einweiht. Denn Hans, seine Schwester Sophie und eine Handvoll weiterer Verbündeter verbreiten im Verborgenen regimekritische Flugblätter.
Graf wird Mitglied der „Weißen Rose“. Und er geht hohe Risiken ein, um weitere Unterstützer zu gewinnen. Der Historiker Wolfgang Benz schreibt: „Er übernimmt den gefährlichsten Teil der konspirativen Arbeit, reist mit gefälschten Militärfahrkarten nach Bonn, Freiburg, Ulm, Saarbrücken, um Verschwörer zu werben.“ Auch bei seinem letzten Weihnachtsfest 1942 in Saarbrücken wirbt er Kameraden als Helfer an. Wenig später, am 18. Februar 1943, wendet sich das Blatt. Nach einer Flugblattaktion an der Münchner Universität werden die Verschwörer verhaftet. Es folgen tagelange Verhöre.
Nur vier Tage nach der Verhaftung werden Hans und Sophie sowie Christoph Probst hingerichtet. Graf leugnet zunächst jedwede Mitwisserschaft. Später schiebt er die Verantwortung auf den toten Hans Scholl. Dennoch werden Graf und weitere Mitglieder der Weißen Rose zum Tode verurteilt. Am 12. Oktober stirbt Willi Graf unter dem Fallbeil.
Sein Andenken ist in München, wo ein Studentenwohnheim und ein Gymnasium seinen Namen tragen, noch immer lebendig. Er sei ein bleibendes Vorbild, sagt die Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, Hildegard Kronawitter: „Ernsthaft, überlegt, klarsichtig und standhaft handelte Willi Graf in einer Zeit, die den Einzelnen zur Anpassung zwingen wollte.“
Zum 100. Geburtstag
von Willi Graf und zum Auftakt der Voruntersuchung der Seligsprechung feiert Pater Karl Kern SJ am Dienstag, 2. Januar, um 18 Uhr einen Gottesdienst in der Jesuitenkirche St. Michael in der Innenstadt (Neuhauser Straße 6). Die Weiße-Rose-Stiftung, das Studentenwohnheim Willi Graf und das Willi-Graf-Gymnasium München richten am Mittwoch, 10. Januar, um 19 Uhr im Großen Saal des Wohnheims an der Hiltensbergerstraße 77 eine Gedenkveranstaltung aus.