Seit Jahren steigen in München die Geburtenzahlen. Spätestens wenn aus dem Säugling ein Kleinkind geworden ist, stehen Eltern vor schwierigen Fragen: Wie setzt man dem kleinen Trotzkopf Grenzen? Sollen sich Eltern einmischen, wenn Geschwister streiten? Wir fragten die Münchner Psychologin Julia Berkic. Die 42-Jährige forscht am Münchner Staatsinstitut für Frühpädagogik – und veröffentlicht am 25. Juni einen Elternratgeber.
-Frau Berkic, ein Kind (2) will immer bei Mama und Papa schlafen. Wie gewöhnt man es an ein eigenes Bett?
Eltern sollten sich fragen, ob das Kind wirklich stört. Wenn es ihnen einfach nur zu eng ist, hilft oft ein breiteres Bett. Viele wollen ihr Kind nur aus dem Elternbett rauskriegen, weil sie denken, ein Kind müsste ab einem bestimmten Alter allein schlafen. Dabei ist es ganz natürlich, dass Kinder nachts aufwachen und bei den Eltern schlafen wollen. Das ist ein Relikt aus früheren Zeiten – eine Überlebensmaßnahme. Können die Eltern tatsächlich nicht gut schlafen und ist der Leidensdruck groß, ist es selbstverständlich in Ordnung, ein Zweijähriges behutsam an ein eigenes Bett zu gewöhnen. Ich halte nur nichts von Schlaftrainings à la „Jedes Kind kann schlafen lernen“. Hier wird teils empfohlen, das Kind minutenlang schreien zu lassen. Besser ist es, individuell und feinfühlig vorzugehen. Zum Beispiel mit Worten zu signalisieren, dass man in der Nähe ist und das Kind keine Angst zu haben braucht. Wichtig ist auch, dass das Kind die Möglichkeit hat, zu den Eltern zu kommen. Also keine Gitterbetten einsetzen.
-Ein Kind (3) schreit und weint, wenn es nicht kriegt, was es will. Sollen Eltern nachgeben oder konsequent sein?
Viele Eltern können nicht gut unterscheiden zwischen einem emotionalen Grundbedürfnis des Kindes und einem Wunsch. Schokolade zum Beispiel fällt definitiv nicht unter ein emotionales Grundbedürfnis. Wenn man da Nein sagt, fügt man seinem Kind keinen Schaden zu. Eltern müssen dann aushalten, dass das Kind schreit. Aber wenn Eltern konsequent sind, wird das Kind aufhören, Schokolade zu fordern, weil klar ist, dass es vor dem Essen keine Schokolade gibt. Dagegen sind der Wunsch nach Zuwendung und Kuscheln sowie der Wunsch nach Unabhängigkeit und Sachen selber entdecken dürfen, emotionale Grundbedürfnisse. Da sollten Eltern keine Grenzen setzen.
-Ein Kind (3) quatscht ständig dazwischen, wenn sich Mama oder Papa mit anderen unterhalten. Wie lehrt man das Kind, andere nicht zu unterbrechen?
Wichtig ist, dem Kind alternative Angebote zu machen. Zum Beispiel, dass es Malen kann. Außerdem muss man dem Kind insgesamt genug Zeit widmen, in der die Eltern mit dem Kind reden. Zu erwarten, dass ein Dreijähriges über einen langen Zeitraum schweigend einem Gespräch folgt, ist utopisch.
-Ein Kind (8) will bei Regenwetter unbedingt mit T-Shirt und Sandalen raus. Wie kriegt man es dazu, Gummistiefel anzuziehen?
Kinder haben ein sehr unterschiedliches Kälte- und Wärmeempfinden. Es gibt tatsächlich viele Kinder, die nicht leicht frieren. Vielleicht muss es auch einfach mal ausprobieren, wie es ist, mit Sandalen in den Regen zu gehen und nasse Füße zu bekommen. Das kann sehr lehrreich sein und bringt mehr, als es auszudiskutieren. Eltern können ja die wärmeren Schuhe einpacken, damit das Kind sie später noch anziehen kann. Bei einem achtjährigen Kind finde ich es ohnehin nicht mehr angemessen, als Eltern über die Kleidung des Kindes bestimmen zu wollen.
-Ein Kind will teure Markenklamotten. Wie macht man ihm klar, dass das nicht drin ist?
Markenterror an Schulen ist ein schwieriges Thema. Die Idealvorstellung ist natürlich, dem Kind genug Selbstbewusstsein zu vermitteln, dass es sich auch ohne Markenklamotten wohlfühlt. Aber die Erfahrung zeigt: Wenn es die Nike-Turnschuhe sein müssen, dann müssen es die Nike-Turnschuhe sein. Das Kind wird unglücklich sein, wenn es die nicht bekommt. Eltern müssen dieses Unglück aushalten können. Eine glückliche Kindheit bedeutet nicht, dass das Kind nie negative Gefühle hat. Man kann dem Kind auch sagen: Wenn es unbedingt diese Turnschuhe sein müssen, dann spare dir das Geld zusammen. So lernen sie den Umgang mit Geld.
-Stress am Morgen: Die Kinder kommen nicht aus dem Bett und packen ihren Schulranzen nicht rechtzeitig. Wie damit umgehen?
Morgens kann man viel Stress rausnehmen, indem man sich besser organisiert und mehr Zeit einplant, zum Beispiel früher aufstehen und den Schulranzen am Vorabend packen. Wenn es trotzdem überhaupt nicht funktioniert, kann es sein, dass grundsätzlich – und nicht nur morgens – nicht genug Zeit zum Reden da ist. Das Kind fordert dann an dieser Stelle die Aufmerksamkeit ein, die es sonst nicht kriegt. Studien zeigen: Wenn Kinder grundsätzlich in ihren Bindungs- und Autonomiebedürfnissen ernst genommen werden, wenn sie genug Zeit mit ihren Eltern verbringen können, dann sind sie in der Regel über weite Strecken des Alltags kooperativ.
-Kinder streiten um ein Spielzeug: Sollen sich Eltern einmischen oder sollen Kinder das unter sich ausmachen, solange sie sich nicht die Köpfe einschlagen?
Man sollte nicht erwarten, dass ein zweijähriges Kind freiwillig und gern sein Spielzeug teilt. Erst mit etwa vier Jahren ist ein Kind in der Lage, die Perspektive anderer einzunehmen. Oft ist Zurückhaltung mehr, solange kein Blut fließt. Eltern, die sich sehr viel einmischen, nehmen dem Kind die Chance, eigene Erfahrungen zu machen. Wenn das Kind aber klar signalisiert: Ich brauche Mama oder Papas Hilfe und es bittet darum, soll man dem Kind helfen.
-Ein Kind (10) spielt ständig mit dem Smartphone. Wie kriegt man es vom Handy weg?
Die Eltern sind das Vorbild. Hängen sie selbst die ganze Zeit am Smartphone, um zum Beispiel Arbeits-E-Mails zu checken, ist es schwer, dem Kind zu vermitteln, dass es das nicht tun soll. Grundsätzlich helfen klare Regeln, wann und wie lange das Kind das Smartphone benutzen darf.
-Ein Teenager (16) will bis nach Mitternacht ausgehen, missachtet das elterliche Verbot und büxt aus. Was tun?
Es ist im Jugendalter normal, dass sich Kinder widersetzen und eigene Erfahrungen machen wollen. Das Wichtigste ist, miteinander im Gespräch zu bleiben. Eltern sollten wissen, was das Kind macht, wo es ist und was so attraktiv war, dass es sich über das Verbot hinweggesetzt hat. Grenzen könnte man setzen, indem man zum Beispiel sagt: Du steigst niemals zu einem Betrunkenen ins Auto. Wichtig ist auch, dass sich das Kind den Eltern anvertrauen kann, wenn etwas schiefgegangen ist. Im Jugendalter wird immer irgendetwas schiefgehen.
Interview: Bettina Stuhlweißenburg