Arme, Beine, Oberkörper, Gesicht. „Etwa 28 Splitter der Bombe stecken noch in meinem Körper“, sagt Robert Höckmayr (50). „Ich glaube, sie wandern – auch wenn meine Ärzte sagen, dass Splitter im Körper nicht wandern können.“ Einer dieser Splitter steckt in der Brust des Mannes mit dem kantigen Gesicht und dem grauen Bürstenhaarschnitt. Wie ein makabres Erinnerungsstück, irgendwo zwischen den Rippen. „Es ist der Splitter, der Ignaz durch den Kopf schoss und ihn tötete. Mein Bruder rettete mir wahrscheinlich das Leben.“
Höckmayr war zwölf, als Neonazis am 26. September 1980 am Eingangsbereich zum Oktoberfest eine Bombe zündeten. Vater, Mutter, vier Geschwister: Mit seiner ganzen Familie stand er in der Nähe der explodierenden Mülltonne. Zwei Geschwister starben: Ignaz (6) und Ilona Platzer (7). Platzer hieß auch Höckmayr, bis er 1990 wegen der unerträglich vielen Presseanfragen den Nachnamen seiner Frau annahm. „Danach war Ruhe“, sagt er. Doch die Wunden lassen ihm keine Ruhe.
Langfristig hat die Explosion Menschen wie ihn nicht nur verkrüppelt und zu seelischen Invaliden gemacht. Die Bombe des Attentäters Gundolf Köhler und seiner Hintermänner hat in Höckmayrs Fall die Familie zerstört. Seine überlebenden Geschwister Elisabeth und Wilhelm nahmen sich das Leben. „Willi warf sich 2008 an seinem Geburtstag vor die U-Bahn. Das war kein Zufall“, sagt Höckmayr. Seine Schwester Elisabeth sagte zu ihm einen Tag vor ihrer Drogen-Überdosis: „Morgen bin ich nicht mehr.“ All die Jahre schwebte das Trauma des Attentats über den Platzers. Miteinander darüber sprechen konnten sie nicht.
Um an den blutigsten Anschlag der Nachkriegsgeschichte zu erinnern, hat die Stadt vor einigen Jahren direkt am Tatort ein Denkmal aufgestellt. Höckmayr hielt noch nie viel davon: „Ich kenne kein anderes Denkmal, an das regelmäßig uriniert und gekotzt wird.“
Die Stadt hat nun auf die Kritik einiger Überlebender reagiert. Am morgigen Dienstag weiht Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) im Beisein traumatisierter Menschen wie Höckmayr eine Gedenktafel ein. Die Inschrift auf Deutsch und Englisch soll am Neuen Rathaus in aller Ruhe erinnern, mahnen und warnen, ohne den Trubel rund um die Wiesn. Denn immer zum Oktoberfest wird des Attentats gedacht. Höckmayr durfte über den Inhalt der neuen Inschrift mitentscheiden.
Welch dramatische Wendung der eigentlich schöne Tag am Abend jenes 26. Septembers 1980 nahm – wenn Höckmayr davon erzählt, klingt es wie die Geschichte aus einem Kriegsgebiet. Zum vielleicht ersten Mal spricht er so ausführlich über die Willkür und Brutalität der Tat. Er holt tief Luft.
„Mein Bruder Willi und ich hatten wochenlang gespart, um endlich einmal auf die Wiesn gehen zu können“, beginnt er. Die siebenköpfige Familie lebte in relativ einfachen Verhältnissen im Hasenbergl. „Die Wiesn war für uns sündhaft teuer“, sagt Höckmayr. Ignaz, Willi (14) sowie die Schwestern Sissi (10) und Ilona (7) waren Kettenkarussell, Geisterbahn und zuletzt Kinder-Autoscooter gefahren – schon war das Ersparte aufgebraucht. „Wir waren schon auf dem Weg nach Hause“, sagt Höckmayr. Was dann passierte, bekommt er seitdem nicht aus dem Gedächtnis, lässt ihn regelmäßig schweißgebadet aufwachen.
Fröhlich rannten und hüpften sie gemeinsam Richtung Ausgang. Auf dem Weg kauften sie sich gebrannte Mandeln, Erdnüsse und Zuckerwatte. Nun wollten sie die leeren Tüten noch schnell in den Abfalleimer werfen. Dort stand genau in dem Moment auch Gundolf Köhler, der Attentäter. „Wir waren extra am Abend gekommen, um die bunten Lichter der Wiesn zu sehen“, sagt Höckmayr. Es wurde den Platzers zum Verhängnis.
Ignaz und Ilona liefen voran – da hörte Höckmayr einen Knall, sah eine Stichflamme. „Kurz vorher dachte ich noch: Warum greift der Mann dort mit beiden Armen in die Mülltonne“, erinnert er sich. Wahrscheinlich hatte er Gundolf Köhler gesehen. „Aber absolut sicher weiß ich das natürlich nicht.“
Die Druckwelle schleuderte die Geschwister in alle Richtungen. Der kleine Robert wurde zurück Richtung Wiesn katapultiert, nur langsam kam er wieder zu sich. „Ich sah nur noch schwarz-weiß, hörte ganz dumpf und fühlte mich schwerelos. Zuerst dachte ich, dass die Luftballons meiner Geschwister geplatzt waren.“ Die Brüche und Brandwunden am Körper und im Gesicht spürte Höckmayr nicht. Er stand auf, lief durch Blutlachen, an Menschen vorbei, denen Gliedmaßen fehlten, die um Hilfe schrien. „Ich hole Hilfe“, sagte er zu ihnen und traf auf seine Schwester Ilona. Sie lag am Boden und war noch bei Bewusstsein. Die letzten Worte, die Höckmayr von ihr hörte, waren: „Es tut so weh.“
Sein Trauma konnte Robert Höckmayr, so wie viele direkt Betroffene, bis heute nicht verarbeiten. Auf die Theresienwiese ist er nie wieder gegangen. Weil ihm sonst schlecht wird und sich die Brust verengt. Wie er mit all den Erinnerungen zurechtkommt, weiß er nicht so genau. „Ich habe mir ein Bild zurechtgelegt“, sagt er. „Schrank auf, alles rein, Türe zu. Das klappt zwar nicht immer. Aber es hält mich am Leben.“