In der Einladungsbroschüre zum Gedenken an die Reichspogromnacht findet sich ein Foto vom Rosental. Man sieht Passanten. Sie spazieren an den zerstörten Fensterscheiben des Kaufhauses Uhlfelder vorbei. Als wäre nichts gewesen.
Charlotte Knoblochs Erinnerung ist auch heute noch nicht verblasst. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) war ein Kind von sechs Jahren, als sie an der Hand ihres Vaters das Grauen miterleben musste. „Bis heute sehe ich die eingeschlagenen Fensterscheiben des Kaufhauses Uhlfelder“, sagt Knobloch in ihrer Rede. Und sie fügt an: „Bis heute sehe ich die brennende Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße. Ich rieche noch den Brandgeruch.“ Ihren Vater hat sie damals gefragt: „Warum kommt denn nicht die Feuerwehr?“ Am 9. November 1938 gingen nicht nur Fensterscheiben zu Bruch, sondern es wurde das Tor zu Auschwitz aufgestoßen.
Auch heute sind wieder zumindest geistige Brandstifter am Werk. Darauf weist nicht nur Knobloch hin, sondern auch OB Dieter Reiter (SPD) und Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Reiter sagt, es sei erschreckend, dass 80 Jahre später wieder antisemitische Denkmuster und Ressentiments grassierten. Es sei „eine Schande für unser Land“, dass jüdischen Menschen aus Angst vor Übergriffen zum Tragen von Basecaps statt einer Kippa geraten werden müsse. Reiter erinnert, 1938 hätten die Münchner, anstatt einzugreifen, „meist einfach zugeschaut, bisweilen zugestimmt oder im schlimmsten Fall sogar mitgemacht“.
Der OB und Söder machen deutlich, wie wichtig es sei, „die historische Verantwortung für die Barbarei der Nazis zum Ausdruck zu bringen“. Der Ministerpräsident sagt, die Pogromnacht zähle zu den „dunkelsten Momenten der deutschen Geschichte“. Die Verbrechen sollten Mahnung und Auftrag an die Politik sein, „dass so etwas nie wieder passieren darf“. Antisemitismus werde klammheimlich wieder „lauter und hoffähig“, warnt Söder. Wer alte Hetzparolen wiederbelebe und jüdische Menschen angreife, „legt Hand an unsere Freiheit und greift uns alle an“, betont der CSU-Politiker. Wenn sich in unserem Land etwas verändere, dürfe man nicht schweigen. Bayern werde alles dafür tun, damit Juden ihren Glauben selbstverständlich und frei von Angst leben können. „Das ist eine Herzensangelegenheit“, bekräftigt Söder.
Der Ministerpräsident und Reiter nennen die AfD nicht namentlich. Knobloch tut das sehr wohl. Auch heute sei Hass präsent, sagt die IKG-Präsidentin: „Er manifestiert sich in einer politischen Partei, die sich inzwischen in allen Parlamenten unseres Landes festgesetzt hat und die gerade keine Alternative für Deutschland ist.“ Knobloch zeigt sich besorgt über das gesellschaftliche Klima: „Angst vor Judenhass gehört zum jüdischen Leben in Deutschland heute wieder dazu“, erklärt die 86-Jährige. Aus dem „Nie wieder“ zum Antisemitismus dürfe kein „Jetzt wieder“ werden.
Hinter dem Rednerpodium werden während des Gedenkaktes per Videostream die Namen der 4500 ermordeten Münchner Juden gezeigt. Am Morgen waren bei der öffentlichen Lesung am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße die Namen sowie kurze Biografien von jüdischen Münchnern verlesen worden, die im November 1938 ins Konzentrationslager Dachau verschleppt worden waren. Stadtweit finden an diesem Freitag und auch in den folgenden Tagen Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht statt. Im Alten Rathaus schließt Charlotte Knobloch ihre Rede mit den Worten: „Gegen Judenhass helfen nur noch Taten.“