Sie naht wieder mit Riesenschritten, und allein die Vorstellung treibt mir den kalten Schweiß auf die Stirn. Die staade Zeit – ein Begriff, für den die Bezeichnung Euphemismus noch verharmlosend wäre. Mag ja sein, dass zu Urgroßvaters Zeiten Ruhe einkehrte, wenn die Feldarbeit getan, der Wald durchforstet und das Vieh versorgt war. Aber heute, in München? Nie sind Busse und Bahnen voller, Straßen verstopfter, Parkplätze rarer und Ladenkassen stärker belagert als jetzt. Und „staad“, im akustischen Sinn, ist es in der Stadt schon gar nicht. Wer dem Hupkonzert auf der Straße entronnen ist und in die Fußgängerzone eintaucht, dem hämmert aus jeder zweiten offenen Ladentür der Beat dessen entgegen, was man in Amerika für Weihnachtsmusik hält. Und dazwischen dringt „Stille Nacht“ aus allen Ritzen. Dabei ist es bis zu dieser sagenhaften, irgendwann einmal still gewesenen Nacht noch fast vier Wochen hin.
Die Zeit bis dahin: ein Marathonlauf mit Hindernissen. Auf der Arbeit reiht sich Termin an Termin – im schwindenden Jahr müssen noch Konferenzen, Meetings, Geschäftsessen, Gespräche und andere Schmankerl des beruflichen Alltags untergebracht werden. Und nebenbei hat man ja auch noch zu arbeiten. Privat liegt die mangels zündender Ideen noch gar nicht geschriebene Geschenke-Einkaufsliste bleischwer in der Tasche, der Pflichttermin beim Zahnarzt muss auch noch eingeschoben werden, damit der Stempel ins Krankenkassen-Scheckheft kommt (Tipp: Wenn Sie wollen, dass Ihr Zahnarzt Ihnen Zeit widmet, sprechen Sie ihn einfach mal auf die staade Zeit an), und in einem Anflug geistiger Umnachtung habe ich neulich Tante Erna versprochen, vor dem Fest noch mal vorbeizuschauen. Da, immerhin, darf ich ganz staad sein. Das Reden übernimmt gewöhnlich Tante Erna.
Das alles wäre leichter zu ertragen, wenn ich allein auf der Rennstrecke wäre. Aber da sind noch 1,5 Millionen andere, die es genauso eilig haben, weswegen alles viel langsamer geht, obwohl jeder mit doppelter Drehzahl läuft. Es ist, als führen plötzlich alle Vollgas im ersten Gang. Wahrscheinlich ist mir deshalb gerade Tante Erna eingefallen. Bei der ist das der Normalzustand. Ich jedenfalls habe beschlossen, einen Gang hochzuschalten. Nicht, um schneller zu fahren, sondern um die Drehzahl zu senken. Denn wer immer nur rotiert, verliert das Ziel aus dem Blick. Und das ist schließlich schon zum Greifen nah. Es geht auf Weihnachten zu, und wir dürfen uns freuen. Sie wissen schon: Die staade Zeit steht bevor.
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