„Ich bin jeden Tag am Denkmal“

von Redaktion

VON KLAUS VICK

Oft erwacht Smajl Segashi mitten in der Nacht. Dann steht er auf und geht zum Denkmal am OEZ. Bei Wind und Wetter. Knapp zwei Kilometer zu Fuß. Vor dem Foto seiner Tochter hält er dann inne. Es gäbe noch so viel zu sagen. „Doch sie spricht nicht mit mir“, sagt Segashi mit verzweifeltem Blick. Schweigen. Tränen. Auf Segashis linken Unterarm ist der Vorname der Tochter tätowiert: Armela.

Seit diesem Schreckenstag geht er jeden Tag zur Gedenkstätte. Als der 62-Jährige dort den Zeitungsreporter trifft, hält er wieder kurz inne. Tränen fließen über sein Gesicht. Dann schreitet er zum Denkmal, ein sportlicher drahtiger Mann, kniet nieder und nimmt ein Erinnerungsfoto seiner Tochter in die Hand. Ein Passant kommt auf ihn zu und sagt: „Ich fühle mit Ihnen.“ Zufällig trifft Segashi einen früheren Arbeitskollegen. Sie plaudern kurz. Er werde oft am Denkmal angesprochen, sagt er. Das tut gut. Genauso wie die Begleitung der Opferberatungsstelle Before. Aber eines steht für ihn fest: „Ohne den familiären Zusammenhalt würde ich heute nicht mehr hier sitzen.“ Seine Frau (57), ein Sohn (25) und eine weitere Tochter (22) halten ihn am Leben.

Segashi zeichnet mit jedem Satz, mit all seinen Gesten ein Gemälde seiner ermordeten Tochter. Man kann sich die 14-jährige Armela bildlich vorstellen. Ihr Lachen, ihr unbefangenes Wesen, der Sonnenschein der fünfköpfigen Familie. Sie träumte von einem eigenen Kosmetiksalon. „Papa, ich werde mal eine große Person“, habe sie immer gesagt. Und war sich so sicher, ihre Pläne verwirklichen zu können. Bei diesen Erzählungen huscht ein sanftes Lächeln über Segashis Gesicht. Aus jeder Silbe des Vaters klingt heraus, wie sehr er Armela vermisst. Auch heute noch, vier Jahre nach der Gräueltat. Es ist eine Wunde, die nie verheilt. Segashi hat sich nie gescheut, die Öffentlichkeit an seiner Trauer teilhaben zu lassen. „Ich tue das für Armela“, sagt er. So hat ein Team des ZDF den Alltag der Familie 2017 monatelang für eine Dokumentation begleitet.

Segashi stammt aus dem Kosovo. 1981 kam er nach Deutschland, lebte sieben Jahre lang in Bonn. 1988 zog er nach München, arbeitete seitdem als Busfahrer, beim Unternehmen Autobus Oberbayern. Ob er seinen Beruf geliebt habe? „Und wie,“ antwortet er. Seit dem Schreckenstag konnte er ihn aber nicht mehr ausüben. „Kinderstimmen zu hören – es war für mich unmöglich.“

Manchmal denkt Segashi darüber nach, warum nicht er selbst am 22. Juli anstelle seiner Tochter ins Visier des Attentäters geraten ist. Warum er sie nicht zum Eisessen mit ihren Freundinnen begleitet und sich schützend vor sie gestellt hat. Wie bei vielen Menschen, denen Grausames widerfahren ist, wird er von einer Gedankenflut erdrückt. „Wissen Sie, ich wünsche das meinem schlimmsten Feind nicht.“

Am 22. Juli 2016 ist Segashi mit seiner Frau beim Einkaufen, als er von der Schießerei am OEZ erfährt. Er ruft Armela sofort an. Sie hebt nicht ab. Der Vater befürchtet das Schlimmste. Die Todesnachricht wird ihm erst um sechs Uhr morgens des nächsten Tages überbracht.

Es gibt so vieles, das er nicht begreifen kann. Wieso hat der Vater von David S. nichts bemerkt? Wieso hat er es zugelassen, dass sein Kind Schießübungen macht? Den Prozess gegen den Waffenhändler verfolgte Segashi Tag für Tag. Warum muss dieser Mann nur sieben Jahre in Haft? Seine Tochter ist tot.

Nach dem Attentat ist Segashi vom Ort des Grauens weggezogen, ins Hasenbergl. Zwei Jahre später kehrte er zurück nach Moosach. Er musste das tun, er musste seiner Tochter nahe sein. „Armela hätte das so gewollt“, sagt Smajl Segashi. Auch wenn sie nicht mehr mit ihm spricht.

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