von Mike Schier
Seine letzte Amtshandlung als Oberbürgermeister sagt eigentlich alles: Es ist der späte Nachmittag des 31. Juni 1972 – und München schwelgt in Feierlaune. Das liegt nicht nur an sieben Freibierschänken in der Innenstadt, nein, München zelebriert das Ende einer Ära. Der Ära Vogel. Seinen Abschied begeht er mit der offiziellen Einweihung der Fußgängerzone. Die wird von den Münchnern zwar schon seit Wochen benutzt, doch zum symbolischen Abschluss soll noch einmal gezeigt werden, welch große Veränderungen dieser Oberbürgermeister über die Stadt gebracht hat. Im Leitartikel dieser Zeitung heißt es am selben Tag, Vogel habe eine „kommunalpolitische Leistung vollbracht, die über München hinaus Maßstäbe gesetzt hat“.
Zwölf Jahre war Hans-Jochen Vogel Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt. Nur zwölf Jahre, möchte man fast sagen, denn rückblickend wirkt es, als habe sich die Entwicklung Münchens in diesen Jahren wie im Zeitraffer vollzogen. Die Stadt wuchs um 300 000 Einwohner auf 1,34 Millionen im Jahr 1972 – in den nächsten 40 Jahren sollten nur 90 000 weitere folgen. Vogel selbst hat in seinem Buch „Die Amtskette“ seine Bilanz in Zahlen ausgedrückt: In seiner Amtszeit „entstand ein Schienenschnellverkehrssystem von 420 Kilometern Ausdehnung, wurden 175 000 Wohnungen, 1770 Schulräume und über 2800 Krankenhausbetten geschaffen sowie 400 Kilometer Straßen gebaut“. München erlebte einen unglaublichen Boom – auch wenn man das damals natürlich noch nicht so genannt hat. Klar: Die Olympischen Spiele haben diese Entwicklung verstärkt, doch man würde der Person Hans-Jochen Vogel nicht gerecht würde man sie allein dafür verantwortlich machen.
Es ist eine außergewöhnliche Karriere: Vogel ist erst 34 Jahre alt, als er das Büro im Rathaus bezieht. 1960 ist das fast schon ungehörig jung – obwohl Vogel selbst rückblickend festgestellt hat, dass sein Alter im Wahlkampf eine überraschend kleine Rolle spielte. München staunt, wie weit der junge Einser-Jurist den konservativen Josef Müller, genannt der „Ochsensepp“, hinter sich lässt: 64,3 Prozent fährt er ein.
Der etwas penible junge Mann mit der markanten Brille ist Münchens Versprechen für die Zukunft. Mit großer Disziplin und enormem Fleiß stürzt er sich in seine Aufgabe, die Arbeitstage dauern bis spät in die Nacht. Ungeduldig ist der Neue, antreibend und fordernd, was natürlich nicht allen Beamten seines Hauses schmeckt. Es dauert nicht lange, bis Vogel der Ruf vorauseilt, einen „autoritären Führungsstil“ zu pflegen.
Aber wahrscheinlich braucht München im Jahr 1960 genau das: einen jungen, neuen Stil mit viel Energie. Der Wiederaufbau der Stadt ist in weiten Teilen abgeschlossen, ihre Strukturen aber können mit dem rasanten Wachstum nicht mehr Schritt halten. 1957 hat die Stadt erstmals die Millionengrenze überschritten, jetzt kommen jährlich rund 25 000 Einwohner hinzu. Und Vogel, zuvor als Jurist in der Staatskanzlei tätig, stellt in seiner Verwaltung die Weichen neu.
Was heute selbstverständlich scheint, wird 1963 als großer Erfolg gefeiert: Erstmals stellt München auf Basis wissenschaftlicher Erhebungen ein Konzept zur längerfristigen Stadtplanung auf. Es enthält zwar einige Vorhaben, die aus heutiger Sicht haarsträubend anmuten (beispielsweise ein Schnellstraßenkreuz mitten in der Stadt), aber auch wegweisende Grundsatzentscheidungen – beispielsweise für U- und S-Bahn sowie eine größere autofreie Zone in der Innenstadt. „Der Gedanke, dass Stadtentwicklung nicht zwangsläufig sei, sondern von Menschen beeinflusst und korrigiert werden könne, wurde – wenn auch noch etwas zaghaft – artikuliert“, schreibt Vogel in seinen Erinnerungen. Schon ein Jahr später, 1964, beginnt der Bau des ersten U-Bahn-Abschnitts.
An Olympische Spiele hat Vogel zu diesem Zeitpunkt noch keinen Gedanken verschwendet. Das ändert sich schlagartig, als ihn Ende Oktober 1965 Willi Daume im Rathaus besucht. „Er erkundigte sich, ob ich fest auf meinem Stuhl säße“, erinnert sich Vogel später. „Als ich das ahnungslos bejahte, fragte er, ob sich München für die Spiele des Jahres 1972 bewerben wolle. Mir verschlug es zunächst einmal den Atem.“
1965 erscheint dieses Vorhaben geradezu ungehörig. Deutschland befindet sich mitten im Kalten Krieg, München verfügt über keine einzige olympiataugliche Sportstätte – und ist als ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“ historisch schwer vorbelastet. Als Daume gegangen ist, tigert Vogel eine halbe Stunde vor seinem Schreibtisch hin und her – und beschließt, „für einen ernsthaften Versuch einzutreten“, die Spiele in die Stadt zu holen.
Im Jahr 1965 läuft eine Olympiabewerbung noch ein wenig unkomplizierter ab als heutzutage. Auch der Widerstand ist geringer. Nur ein paar Monate bleiben der Stadt bis zum Ende der Frist. Dann fährt die Delegation nach Rom, wo das Internationale Olympische Komitee tagt. Dort entscheidet vielleicht die Intuition von Daume und Vogel über die Vergabe: München darf in der ewigen Stadt als letzter seine Bewerbung präsentieren – und die Konkurrenten haben mit ihren Präsentationen schon heftig die Zeit überschritten. Der schärfste Konkurrent, Montreal, schwächt sich selbst, indem man den Sportlern kostenlose Unterbringung und Verpflegung anbietet. Die IOC-Funktionäre werten dies als Versuch, die Spiele zu kaufen.
Vogel („Es war wie beim Staatsexamen“) und Daume sehen die müden Funktionäre – und halten die Präsentation ganz knapp: ein 13-minütiger Bewerbungsfilm, zwei kurze Reden – am Ende heißt der Sieger München. Noch in Rom wird das erste Fass mit bayerischem Bier angezapft. Die Heimkehr an die Isar gleicht einem Triumphzug.
Vielleicht sind es jene Tage im Jahr 1966, die den Höhepunkt von Vogels Macht im Rathaus darstellen. Wenige Wochen zuvor haben die Bürger ihren OB im Amt bestätigt – mit 77,9 Prozent der Stimmen. Vorher und nachher ist kein anderer Oberbürgermeister auch nur in die Nähe dieses Ergebnisses gekommen. Nicht einmal der „Bürger-King“ Christian Ude.
Vogels ungebrochener Tatendrang und der Olympia-Zuschlag lösen einen nicht gekannten Bau-Boom in München aus. Am Oberwiesenfeld entsteht das Olympische Dorf. Dort, wo zu Vogels Dienstantritt noch Schafe grasten und Sportflugzeuge landeten, entsteht ein Stadion mit futuristischem Zeltdach, das ständig höhere Summen verschlingt.
Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen: Anfang der 70er-Jahre hat das Zeltdach viele Kritiker. Vogel verteidigt es energisch: „Eine Gesellschaft muss auch einmal die Kraft aufbringen, einen großen Betrag für ein im engeren Sinn zweckfreies Vorhaben, für ein architektonisches Kunstwerk aufzuwenden“, sagt er. Heute ist dieses Kunstwerk eines der Wahrzeichen Münchens.
Die Stadt wird zur Baustelle. Viel schneller als geplant kommt der S-Bahn-Tunnel vom Ost- zum Hauptbahnhof – kein Vergleich zum ewigen Gezeter um die zweite Stammstrecke. Die U-Bahn wächst rasant, der Stachus bekommt ein neues Gesicht. Der Verkehr in der Innenstadt wird dramatisch reduziert, im April 1968 fährt die letzte Tram durch die Neuhauser Straße. Dann rücken auch hier die Bagger an.
Die Geduld der Bürger wird auf eine harte Probe gestellt. Viele fürchten, München verliere den ihm eigenen Charme. Der Unmut richtet sich zunehmend auf den Oberbürgermeister, der seinerseits ein wenig mit der Bodenhaftung zu kämpfen scheint. Eine „ausgesprochen große persönliche Empfindlichkeit“ attestiert ihm der Münchner Merkur zum Abschied 1972. Vogel sei im „Umgang mit den einfachen Leuten mehr das ,Anhimmeln‘ denn eine ,kritische Grundhaltung‘ gewohnt“ gewesen.
Womöglich ist es das, was den linken Flügel der SPD gegen den Oberbürgermeister aufbringt. Mit den Linken hat Vogel schon seit 1962 seine Probleme, als es aus nichtigem Anlass zu tagelangen Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und der Polizei kam. Die „Schwabinger Krawalle“ stellen einen der Tiefpunkte in Vogels Amtszeit dar. Fünf Nächte in Folge prügeln sich Polizeibeamte mit Studenten, aber auch anderen Bürgern. Das Augenmaß geht dabei verloren. Vogel will erst vermitteln, dann greift auch er zu härteren Methoden. „Mir sind die Knochen meiner Beamten lieber als die Gesundheit unvernünftiger Rowdys und Schreier“, ist als Zitat überliefert.
Doch die Reibereien um seine Amstführung und die Scharmützel innerhalb der SPD sind schon bald nach seinem Abtritt vergessen. Vogel steigt zu einem der großen Sozialdemokraten der Bundesrepublik auf. Und München behält ihn als den prägenden Oberbürgermeister der Nachkriegszeit in Erinnerung. Den Nachfolgern schaut er auch im hohen Alter noch genau auf die Finger. Ideen und Konzepte bringt er säuberlich zu Papier und bewahrt sie in Klarsichtfolien auf. Gefürchtet sind seine Briefe an die Stadtoberen, in denen er vermeintliche Fehler anprangert. Selbst ganz zum Schluss, als der „Herr Parkinson“, wie Vogel ihn nennt, schon sein ständiger Begleiter ist, sorgte sich Vogel noch um das Wohl seiner Stadt. Er schreibt ein Buch über eine Bodenreform, um Wohnen wieder billiger zu machen. Sein Abschied als OB und die Eröffnung der Fußgängerzone liegen da schon 47 Jahre zurück.