Wiesn-Fieber ohne Oktoberfest

von Redaktion

VON MERLE HUBERT UND NINA BAUTZ

Samstag, Schlag zwölf Uhr, Theresienwiese. Eigentlich würde jetzt Oberbürgermeister Dieter Reiter im Schottenhamel die erste Mass Oktoberfestbier emporrecken. „O’zapft is!“ Doch das einzige Zelt weit und breit ist das Corona-Testzelt. Wo sonst Fahrgeschäfte und Buden stehen, wuchert schon das Unkraut. Sanni Schraud (57) verkauft normalerweise Lebkuchenherzen im Biergarten des Augustinerzelts. „Genau hier haben wir sonst unseren Stand“, sagt sie und deutet auf die Runde, die mit Brotzeit und Oktoberfestbier in Sichtweite der Bavaria ihren eigenen Wiesn-Auftakt feiert. Bei wolkenlosem Himmel machen sie das Beste draus.

Nicht nur sie: Halb München ist am Samstag im Wiesn-Fieber, auch ohne das Original. Schon vormittags eilen unzählige in Dirndl oder Lederhose durch die Stadt – auf dem Weg zur Theresienwiese, zu Feiern bei Freunden oder zu einer der 51 Gaststätten, die heuer bei der Wirtshaus-Wiesn mitmachen.

„Es geht auch Wiesn auf der Wiesn ohne Wiesn“, findet Ute Höger (47) auf der Theresienwiese. „Wir sitzen im Augustinerzelt.“ Sie zeigt auf die Stelle, wo sonst die Festhalle steht. Sogar ein Grammophon hat sie dabei, aus dem traditionelle Blasmusik ertönt. Um zwölf Uhr stimmen dann alle zum „Prosit der Gemütlichkeit“ an.

In der Innenstadt warten schon am Vormittag festliche Pferdegespanne am Eingang des Viktualienmarktes, im Biergarten läuten die Münchner Brauereien und Wiesnwirte mit Blasmusik symbolisch das 188. Oktoberfest ein. Ein paar 100 Meter weiter, aus dem Hofbräuhaus ertönt laute Musik und auch im Ayinger gegenüber am Platzl sind alle Tische besetzt. „Die Sehnsucht ist groß“, sagt Julia Bauer. „Einmal im Jahr Tracht: Das gehört einfach dazu.“ Sie und ihre Freunde machen heute Wirtshaus-Wiesn-Hopping. Auch Martin Garn (50) und seine Freunde verbringen den Tag zusammen im Wirtshaus. „Weil uns die echte Wiesn so abgeht.“ Auf echtes Wiesn-Bier und Zelt-Schmankerl müssen sie nicht verzichten.

Auch ein Anstich darf nicht fehlen: Um 12 Uhr spritzt und schäumt es fast wie auf dem Oktoberfest. Zum Auftakt der Wirtshaus-Wiesn schwingen in etlichen Gaststätten Braumeister, Wirte, Politiker, ein Pfarrer und ein Playmate den Schlegel. Der Routinier, Alt-OB Christian Ude, ist im Schillerbräu nach zwei Schlägen fertig. „In meinem Alter fragt man nicht mehr, wie viele Schläge braucht er, sondern wie viele Schläge schafft er noch“, witzelt der 73-Jährige. Mit drei Schlägen zapft im Hackerhaus Pfarrer Rainer Maria Schießler an. Im Hofbräuhaus dauert es etwas länger: Hier muss Wiesn-Playmate Vanessa Teske (26) zwölf Mal draufhauen. Die Veraranstalter sind glücklich mit dem Auftakt: Gregor Lemke, Sprecher der Innenstadtwirte, sagt: „Die Wiesn ist ein tiefes Lebensgefühl, und dieses ist bei unserer Wirtshaus-Wiesn auch heuer wieder von Anbeginn an spürbar.“

Extra wegen des süffigen Wiesn-Biers ist eine Gruppe Engländer angereist und feiert im Donisl. Sie sind nicht die einzigen Wiesn-Touristen. Münchner und Gäste aus dem Ausland hoffen trotz des gelungenen Ersatzes freilich darauf, dass das Oktoberfest nächstes Jahr wieder stattfindet. Die echte Wiesn kann man nicht simulieren.

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