Es ist 9.26 Uhr an diesem sonnigen Mittwochmorgen in München. Vitali Klitschko wird auf einer Video-Leinwand live in den Münchner Stadtrat zugeschaltet, der im Pferdepalast in Fröttmaning tagt. OB Dieter Reiter (SPD) begrüßt den Kollegen aus Kiew mit herzlichen Worten: „Hallo, Vitali!“ Und der ehemalige Profi-Boxer antwortet umgehend: „Hallo, Dieter!“ Man kennt sich gut.
Klitschko trägt eine Militärjacke. Er sitzt in einem schmucklosen Raum an einem schmucklosen Schreibtisch. Vermutlich ein Bunker. Noch vor wenigen Monaten, sagt Klitschko, hätte er nie im Leben gedacht, diese Kluft anziehen zu müssen. Oder ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Reiter bittet den Bürgermeister der Münchner Partnerstadt, Eindrücke aus Kiew zu schildern.
Und dann redet Klitschko – mehr als eine halbe Stunde, ohne Punkt und Komma. Aufgewühlt, emotional, während es in der zum Plenarsaal umfunktionierten Arena mucksmäuschenstill ist. „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, denke ich, das ist ein schlechter Traum“, sagt Klitschko. „Und dann mache ich die Augen auf und sehe, der Krieg ist Realität.“ Bis in die Stadtmitte höre man Explosionen. „Auch hier in Kiew könnten Raketen in Gebäude einschlagen.“ Der Bürgermeister atmet tief durch und fragt: „Wo ist der Sinn dieses Krieges? Wie kann ich meine Brüder hassen?“ Um dann selbst die Antwort zu geben: Putin wolle offenbar wieder ein großes russisches Imperium aufbauen. „Das ist ihm wichtiger, als dass Menschen in Frieden leben können.“ Und Klitschko warnt: „Wir wissen nicht, wo Putins Ambitionen enden.“ Was er damit suggeriert, ist klar: Im schlimmsten Falle nicht an der ukrainischen Grenze.
Die Lage in seinem Land, sagt er, sei dramatisch. Wie viele Tote es bislang gebe, wisse er nicht. Die Russen hätten unterdessen große Verluste zu verzeichnen. Sie würden die Leichen nicht mehr zählen, sondern nur das Gesamtgewicht in Tonnen nen angeben. Noch sind die Angreifer nicht nach Kiew vorgedrungen. Und Klitschko versichert: „Eher sterben wir, als dass wir den Aggressor in unsere Stadt lassen. Die Menschen haben eine riesige Wut. Wir gehen niemals in die Knie.“
Im Pferdepalast herrscht Schweigen. Erst recht, als Klitschko in großer Pose anfügt: „Wir kämpfen nicht nur für unser Land, für unsere Familien, Frauen und Kinder, sondern auch für demokratische Werte und Prinzipien. Wir kämpfen auch für Euch!“ Der Bürgermeister von Kiew dankt den Münchnern für ihre Solidarität.
Aber er ermahnt München und vor allem die Bundesregierung auch, die Geschäfte mit Russland zu stoppen. Am wichtigsten seien wirtschaftliche Sanktionen. „Putin steckt jeden Cent in die Armee.“ Militärische Unterstützung fordert Vitali Klitschko mit keiner Silbe. Er hoffe nach wie vor, dass sich ein Kompromiss finden lasse, um den Krieg zu beenden. Wobei Klitschko glaubt: „Der Konflikt kann noch Monate dauern.“
Nach der Rede erheben sich die Stadträte, applaudieren. Reiter ringt um Worte und sagt: „Vitali, ich bin tief betroffen von deinen Schilderungen. Es macht mich wütend auf den russischen Machthaber, der dieses Leid verursacht.“ Man sehe in München, dass viele ukrainische Flüchtlinge „erschöpft, traumatisiert und verzweifelt ankommen. Aber auch voller Hoffnung, dass sie bald zurückkehren werden können.“ Tausende Münchner hätten ihre Türen geöffnet für Ukrainer.
Klitschko bedankt sich für die aus München angekommenen 170 Tonnen Hilfsgüter. „Wir schätzen Euer Engagement sehr. Deutschland war nie fremd für mich und immer meine zweite Heimat.“ Dann muss er Schluss machen. Er habe Termine, nördlich von Kiew habe es ein Bombardement gegeben.
Nachdem Klitschko von der Leinwand verschwunden ist, erhebt sich der Stadtrat abermals zu einer Schweigeminute für die Opfer des Krieges. In der Aussprache danach erklärt Grünen-Fraktionschef Florian Roth: „Es ist schwer, nach dieser beeindruckenden Rede zur Tagesordnung überzugehen. Alles, was wir tun können, ist im Vergleich zur Situation vor Ort klein.“ Die SPD-Fraktionsvorsitzende Anne Hübner spricht von einem Gefühl der Hilflosigkeit, „weil wir uns nicht vorstellen können, was die Ukrainer in Kopf und Herz aushalten müssen.“ Jörg Hoffmann (FDP), von Beruf Uni-Professor, berichtet von einem aus der Ukraine stammenden Studenten, der ihm unlängst geschrieben habe, er könne dieses Semester leider nicht kommen. Der Grund: „Ich muss meine Stadt verteidigen.“
Es ist eine Stadtratssitzung, die einen frösteln macht. Im sonnigen, schönen München.