Das Jahresende rückt bedrohlich näher – höchste Zeit also, Bilanz zu ziehen. Ich denke da nicht an offizielle Bilanzen wie die von Wirecard, in der dummerweise ein paar Milliarden gefehlt haben, weshalb ein Herr Braun gegenwärtig ziemlich schwarz sieht. Nein, es geht mir hier um die unzähligen persönlichen Bilanzen, die überwiegend die gleichen Konsequenzen haben wie die guten Vorsätze, die nächste Woche dran sind. Nämlich gar keine.
Meist geht es ja gar nicht um eine echte und womöglich auch noch selbstkritische Rückschau, sondern eher um eine Gelegenheit, sich selbst zu loben. Mein Freund Rudi hat das zu einer eigenen Kunstform entwickelt, die mittlerweile vielfach kopiert wird – im Wirecard-Prozess ebenso wie in diversen politischen Untersuchungsausschüssen: „Was nicht funktioniert hat, hab ich nie gewusst oder längst vergessen, und den Rest hab ich eigentlich ganz passabel hingekriegt“, verkündete Rudi gestern und schenkte sich prompt ein Belohnungs-Weißbier ein.
Während Rudi seine so aufpolierte Jahresleistung allenfalls dem engeren Freundeskreis kundtut, sind andere mitteilsamer. Etwa der Bürgermeister, der das halbe Mitteilungsblatt seiner Gemeinde im Landkreis München höchstpersönlich vollgeschrieben hat. Der Ärmste hat niemanden gefunden, der zu angemessener Lobhudelei fähig wäre. Und so berichtet er in der dritten Person über sich selbst und lobt sich dabei über den Schellenkönig für Leistungen, die andere erbracht haben. Ganz so vollmundig singen nur Wenige das Lied der eigenen Unverzichtbarkeit. Doch es bleibt festzuhalten: Der alte Wahlspruch „Tu gutes und rede darüber“ hat in diesen Tagen Konjunktur.
Recht wenig hört man bezeichnenderweise von jenen, die im zweiten Pandemiejahr und auch während der Feiertage besonders viel getan haben: den Pflegekräften. Vielleicht liegt das daran, dass sie im Marathon von Patient zu Patient mit Zwischenstopp an der Dokumentationsliste keine Zeit finden, Bilanz zu ziehen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was geschähe, wenn sie in großer Zahl begännen nachzudenken – etwa über Themen wie Work-Life-Balance oder darüber, dass ihre Interessenvertreter nun schon ein Jahr lang ergebnislos darüber streiten, wer genau denn nun die eigentlich schon beschlossene Zulage bekommen soll.
Diese Frauen und Männer, darüber bin ich mir mit Rudi einig, haben ein dickes Lob zum Jahresende mehr als verdient. Und wir haben uns fest vorgenommen: Sollten wir im bevorstehenden Jahr ihre Hilfe benötigen, wollen wir ihnen die Arbeit so leicht wie möglich machen. Wobei ich den Verdacht habe, dass Rudi das nicht ohne Hintergedanken gelobt. Es wäre schließlich auch ein dicker Pluspunkt für seine nächste Jahresbilanz.
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