NATALIAS NEUANFANG

Geburtstag ohne Familie

von Redaktion

Der Krieg dauert jetzt fast ein Jahr. Es scheint mir, als ob ich erst gestern in einem Flüchtlingslager an der slowakischen Grenze übernachtet und auf die Jungs gewartet hätte, die mich nach München bringen würden. Gleichzeitig fühlt es sich so an, als ob seitdem viele Jahre vergangen wären. Der Krieg hat uns alle gelehrt, jeden Moment des Lebens tiefer zu fühlen. Das gilt sowohl für diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, als auch für die Ukrainer, die nun über die ganze Welt verstreut sind. Ich habe begonnen, mehr nachzudenken, aufmerksamer auf alles zu achten, anderen Menschen mehr Freude zu bereiten und jede in Sicherheit verbrachte Minute zu schätzen.

In letzter Zeit wurde meine Heimatregion seltener beschossen. Und obwohl meine Stadt Odessa seit Langem mit einem Stromausfallplan lebt, bin ich sehr froh, dass meine Lieben am Leben und wohlauf sind. Viele haben sich bereits an den Alltag in Kriegszeiten angepasst. Ich habe neulich mit meiner Hausärztin gesprochen. Das Nötigste hat sie zu Hause: drei batteriebetriebene Taschenlampen. Sie verwendet eine, wenn sie Patienten zu Hause behandelt. Die zweite braucht sie zum Kochen. Unter der dritten Lampe liest sie Bücher. „Wenn die Nerven versagen, bitte ich meinen Mann, den Generator anzuschalten, und ich kann ein bisschen fernsehen“, sagt sie. Jetzt gibt es in fast jedem ukrainischen Haus einen Generator.

Am letzten Januartag hatten mein Vater und ich Geburtstag. Unser erster Geburtstag, den wir nicht zusammen feiern konnten. Diese Tage verbrachte ich mit meiner deutschen Freundin im zauberhaften Bad Gastein in Österreich. Ich genoss die herrliche Berglandschaft des Gasteinertals und war unendlich überrascht, wie mehrstöckige Häuser an so steilen Hängen um den Wasserfall errichtet werden konnten. In der Ukraine habe ich noch nie so hohe Berge gesehen. Ich habe mich an die endlosen Felder und das Meer gewöhnt. Früher hat es an meinem Geburtstag oft viel geschneit. In den letzten Jahren gab es im Winter in der Südukraine fast keinen Schnee. Daher hat mich dieser verschneite Tag so sehr an meine glückliche Kindheit erinnert.

Wir gingen durch die engen und steilen Gassen und betraten die römisch-katholische Pfarrkirche. Eine unsichtbare Kraft zog mich in die hinterste Ecke der Kirche. An der Wand hingen Weihnachtskarten. Ich sah sofort einen Zettel mit einer gelb-blauen Flagge und der Aufschrift: „Wir wünschen Ihnen Frieden und Güte. Sieg für die Ukraine.“ Und daneben noch ein Zettel in russischer Kinderhandschrift: „Mein Name ist Vera. Kann jemand bitte den Krieg beenden?“ Tränen stiegen mir in die Augen. Ich war glücklich und traurig zugleich. Überall auf der Welt und auch in so einem kleinen Dorf in einem anderen Land entdecke ich eine Flagge für die Ukraine und einen guten Wunsch. Die Unterstützung und Solidarität ist unglaublich. Aber ist es jemandem auch so schwer ums Herz für afrikanische Einwanderer, syrische Flüchtlinge, afghanische Frauen? Betet jemand in den Dorfkirchen für sie und hängt einen Wunsch an die Kirchenwand auf?

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