Zivilcourage. Spätestens seit dem Fall Dominik Brunner, der 2009 am Sollner Bahnhof eine Gruppe Schüler beschützen wollte und dabei zu Tode geprügelt wurde, ist sie ein Thema für Marc Paganini. Schließlich stammt der Münchner aus Solln. Vor zwei Jahren hätte er beinahe Brunners Schicksal geteilt, als er bei einer Schlägerei helfen wollte. Eine acht Zentimeter lange Narbe erinnert ihn täglich daran.
Es war in der Nacht vom 19. auf 20. Juni 2021, als Paganini bei einem Spaziergang auf der Reichenbachbrücke, in deren Nähe er inzwischen wohnt, eine Schlägerei beobachtete – und Zivilcourage zeigte. Erst sei er selbst dazwischengegangen. Als er aber sah, dass Flaschen als Waffen benutzt wurden, wollte er lieber den Notruf wählen – und wandte sich ab. „Das war wohl ein Fehler“, sagt Paganini. Denn Mohamed J., einer der Schläger, rammte ihm eine abgebrochene Flasche von hinten in den Hals – mit dramatischen Folgen: Die Scherben durchtrennten eine Hauptschlagader, nur die schnelle Hilfe zufällig vorbeigekommener Polizisten und eine Notoperation retteten Paganini das Leben. Wie ernst seine Lage war, sei ihm beim Notruf eines der Beamten klar geworden, so Paganini. „Wenn ein Polizist ins Telefon sagt, dass der Rettungsdienst sofort kommen solle, weil der Patient sonst einfach verblute, dann will man das in diesem Moment nicht hören.“
Der Täter ist mittlerweile geschnappt und steht seit Anfang Mai wegen versuchten Mordes vor Gericht. Am ersten Verhandlungstag ist Paganini seinem Beinahe-Mörder zum ersten Mal seit dem brutalen Angriff wieder gegenübergestanden. „Ich dachte eigentlich, dass es mich total sauer machen würde, ihn wiederzusehen“, sagt der Münchner. Stattdessen sei er aber ziemlich entspannt gewesen. „Es war beruhigend, dass ich wusste, dass er jetzt im Gefängnis sitzt.“
Überhaupt scheint der Münchner die Bluttat emotional gut überstanden zu haben. Im Gespräch mit unserer Zeitung wirkt er gefasst, als er von den grausigen Geschehnissen erzählt. Zwar habe er die Reichenbachbrücke nach dem traumatischen Erlebnis einige Tage lang gemieden. Inzwischen ist Paganini dort aber wieder oft unterwegs.
Allerdings beschäftigt es ihn, dass es immer wieder zu Schlägereien komme. Und wenn er Scherben oder Flaschen sieht, kommen ihm Gedanken wie: „Warum gibt es hier kein Glasverbot?“ Nicht der einzige Punkt, wo er den Gesetzgeber in der Pflicht sieht. „Mir ist völlig unverständlich, dass man im eigenen Viertel angegriffen wird – von jemandem, der gar nicht mehr frei rumlaufen dürfte“, sagt er. Denn Mohamed J. hat ein umfangreiches Vorstrafenregister.
Nachdem er beinahe das Schicksal Brunners geteilt hätte: Wie steht Paganini heute zum Thema Zivilcourage? Helfen würde er wieder, sagt er. „Aber anders.“ Er würde den Notruf mit einem gewissen Sicherheitsabstand absetzen. „Dann kann nichts passieren, und man hilft trotzdem.“