Noch ist alles ruhig. Die Silhouette des Chinesischen Turms zeichnet sich am Nachthimmel ab, Kerzenschein taucht den Platz in ein romantisches Licht. Langsam erwacht der Englische Garten zum Leben. Lang bevor die Sonne aufgeht, ruckeln Leiterwagen über die Wege, Radler rollen an, viele in Tracht. Fesch gekleidete Fußgänger pilgern aus allen Himmelsrichtungen zum Chinesischen Turm – dem Münchner Wahrzeichen, an dem sich diesen Sonntag wieder alles um die Tradition dreht: Es ist Kocherlball!
Frühmorgens um sechs Uhr eröffnen die Tanzmeister Katharina Mayer und Magnus Kaindl den 32. Kocherlball am Chinesischen Turm. Michael Behrens (70) und seine Lebensgefährtin Franzi Kinateder (81) sitzen da schon seit zwei Stunden an ihrem Stammplatz. „Unser Tisch ist der erste vom ganzen Kocherlball. Wenn die Sonne in der Früh reinscheint, fällt sie als Erstes auf unseren Tisch“, sagt Behrens, der seit vielen Jahren mit dabei ist.
Es sind magische Momente wie diese, die jedes Jahr tausende Menschen mitten in der Nacht aufstehen lassen, um frühmorgens unter Anleitung der Tanzmeister ihr Bein zu bayerischen Volkstänzen zu schwingen.
Bereits im Vorfeld des Balls veranstaltet das Kulturreferat Tanzkurse im Hofbräuhaus, wo die Teilnehmer Rundtänze wie Polka, Landler oder Dreher sowie spezielle Figurentänze erlernen können. „Der Andrang war auch dieses Jahr riesig“, sagt Katharina Mayer. Vorerfahrung brauche es aber nicht: „Jeder kann mittanzen. Am Kocherlball geht es darum, dass Menschen zusammenkommen, um sich sozial auszutauschen und dem Tanzvergnügen zu frönen.“ Tanzkonventionen werden aufgebrochen: „Jeder darf jeden auffordern“, so Mayer. Die Auswahl der Tänze erfolgt spontan: „Wir gehen nach Gefühl, schauen auf die Stimmung – und aufs Wetter.“ Gesetzt ist nur die Münchner Française zur Halbzeit.
Die Volkstanzveranstaltung am Turm hat ihren Ursprung im Tanz der Kocherl, also der Hausangestellten der feinen Herrschaften, Ende des 19. Jahrhunderts. Eingefleischte Fans, die der Historie Rechnung tragen wollen, tanzen deshalb als Zimmermädchen, Kutscher oder Dienstmagd um den Turm. Fündig werden sie im Kostümverleih von Waltraud Breuer an der Hohenzollernstraße. „Wir haben jedes Jahr Kunden, die zum Kocherlball gehen, sie legen viel Wert auf Authentizität“, sagt Breuer, die insgesamt 20 000 komplette Kostüme führt. Das beliebteste zum Kocherlball: das des Zimmermädchens – inklusive Staubwedel.
„Im Jahr 1989 wurde der Kocherlball anlässlich des 200. Geburtstags des Englischen Gartens wieder ins Leben gerufen“, sagt Ursula Seeböck-Forster, langjährige Pressesprecherin des Balls. In den ersten Jahren seien 600 bis 700 Leute gekommen. „Jetzt sind es bis über 10 000. Auch viele junge Leute kommen, und nicht nur alteingesessene Münchner, sondern auch viele Zugezogene. Brauchtum ist wieder unheimlich in.“
Das zeigt sich auch am Gewand: „Die meisten tragen Tracht“, sagt Seeböck-Forster. So wie Barbara Schaller (57), die seit vielen Jahren mit Freundinnen beim Kocherlball vertreten ist. „Wir sind schon um drei Uhr da, es ist ein ganz besonderes Flair“, sagt sie. Ehrensache, dass sie ihr Dirndl jedes Jahr aufs Neue sorgsam auswählt und mit selbst gestrickten Accessoires und Hüten kombiniert. Schöner kann man den Sonntagmorgen nicht begrüßen.