In seinen Händen lagen 15 000 Herzen

von Redaktion

Einblicke des legendären Herzchirurgen: Professor Rüdiger Langes emotionaler Abschied

VON ANDREAS BEEZ

Im Deutschen Herzzentrum München neigt sich eine Ära ihrem Ende entgegen. Nach fast einem Vierteljahrhundert an der Spitze der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie geht Professor Rüdiger Lange Ende August in den Ruhestand. Von Bonn über Heidelberg und Harvard ins Herzzentrum – alleine in der Münchner Spezialklinik mit Weltruf nahm der Ausnahme-Operateur 12 000 seiner insgesamt etwa 15 000 Eingriffe an Herzen vor. Mit einer hochemotionalen Feier hat sich Lange jetzt von seinen Kollegen und Patienten verabschiedet. Im Teatro-Zelt an der Münchner Messe erlebten rund 200 Gäste tiefe Einblicke ins Herz des Herzchirurgen, den Ministerpräsident Markus Söder respektvoll als „einen der bedeutendsten Wissenschaftler in der Champions League der Medizin“ würdigte.

Es gibt wohl nur ein Thema, das Rüdiger Lange noch mehr nervt als sein Alter: der „wohlverdiente Ruhestand“. Er hasst diese „fürchterliche Floskel“ geradezu und gestand: „Dieser Beruf ist mein Leben. Das alles aufzugeben, ist nicht einfach für mich. Ich fühle mich nicht alt oder gebrechlich. Aber ich glaube: Ein Chirurg muss seine letzte Tour machen, wenn er am Gipfel ist.“ Brutal ehrliche Worte eines Mannes, der gerade 70 Jahre alt geworden ist, aber immer noch Höchstleistungen am Operationstisch erbringt und am Wochenende schon mal gut trainierten Rennradlern davonfährt, die seine Kinder sein könnten.

Lange hat sich nie vor der Wahrheit gedrückt – auch an diesem Abend nicht vor der versammelten Elite der Münchner Herzmedizin. Und zu dieser Wahrheit gehört, dass sein Weg auch durch finstere Täler führte. Er erzählte schonungslos offen und detailliert von einer missglückten Herzklappen-OP bei einem jungen Feuerwehrmann: „Er war Familienvater von zwei kleinen Kindern, ein Kerl wie ein Baum.“ Bei dem Eingriff unterliefen Lange Fehler, er wurde nervös, der Patient kam in kritischem Zustand auf die Intensivstation. „Ich bin die ganze Nacht um sein Bett herumgeschlichen – in der Hoffnung auf ein Zeichen, dass sich sein Zustand bessert. Aber das Zeichen kam nicht. Er hat es nicht geschafft. Und ich lebe seitdem mit der grausamen Gewissheit, dass ich den Tod eines eigentlich gesunden Menschen verursacht habe.“

Es war leider nicht das letzte Mal, dass Lange den Kampf um einen Patienten verlor – nüchtern betrachtet unvermeidlich, denn in der Herzchirurgie geht es eigentlich immer um Leben und Tod. Aber diese „Niederlagen, die mich nie loslassen werden“, trieben Lange zu einer Perfektion im OP, die weltweit nur wenige Spezialisten erreichen. „Wir müssen immer so operieren, dass jede Naht, jeder einzelne Stich im Kopf befriedigt. Ein ‚Passt schon‘ darf es im OP nicht geben.“ Eine für ihn fundamentale Erkenntnis. Sie verhalf Lange dazu, in seinen 44 Dienstjahren mehr Leben retten zu können als kaum ein anderer Herzchirurg.

Langes designierter Nachfolger ist Professor Markus Krane. „Er ist ein hervorragender Operateur und ein sehr guter Wissenschaftler“, lobte Lange seinen langjährigen Schüler. Er kehrt aus dem weltberühmten Krankenhaus der Yale Universität in New Haven/USA zurück, um zum 1. September die Leitung der Herzchirurgie im Herzzentrum zu übernehmen. „Markus Krane ist genau die richtige Wahl“, sagte Professor Thomas Hofmann, Präsident der Technischen Universität (TUM) als Trägerin des Herzzentrums. Rüdiger Lange habe dort „hochkarätige Hochpräzisions-Chirurgie“ betrieben und „Lösungen gefunden, die Patienten ein besseres Leben bieten“.

Darunter waren viele Neugeborene. „Er hat Säuglingen Bypässe gelegt, die nicht dicker waren als ein Haar. Rüdiger Lange erbrachte Leistungen, vor denen man nur niederknien kann“, bilanzierte Professor Wolfgang A. Herrmann, der frühere TUM-Präsident. „Es waren goldene Jahre für das Herzzentrum und für unsere Universität.“

Zu Langes Verdiensten gehört auch, dass er sein Fachgebiet – bis zur Jahrtausendwende eine reine Männerdomäne – für Frauen geöffnet hat. Er stellte die erste Kollegin ein, heute beträgt der Frauenanteil im Herzzentrum 50 Prozent: „Darauf bin ich stolz, denn Frauen leisten hervorragende Arbeit, sind extrem fokussiert und belastbar.“

Die extrem schwierige Ebstein-Operation erlernte Lange übrigens bei einem zitternden, aber genialen Herzchirurgen in Brasilien – und zwar gemeinsam mit seinem früheren Stellvertreter Professor Christian Schreiber, der 2016 im Alter von nur 50 Jahren an der Nervenkrankheit ALS starb. Die beiden Ausnahme-Ärzte verstanden sich blind – und die Ohnmacht darüber, dass er Schreiber nicht helfen konnte, quält Lange bis heute.

Langes „Abschnittsfest“, wie er es selbst nannte, bot eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle. Den vielleicht schönsten Höhepunkt setzte sein Sohn Enzo. Der Pianist hatte eigens ein Lied für den Vater komponiert, das er gemeinsam mit der befreundeten Sängerin Marie Junkersdorf vortrug. Der passende Songtitel: „15 000 Herzen.“ Als Zugabe gab’s eine Liebeserklärung an den Papa: „Ich empfinde so viel Demut, Liebe und Respekt für dich. Wir sind beide Sturköpfe, aber du bist mehr als ein Vater für mich, du bist mein bester Freund geworden – obwohl wir uns früher, als ich ein Kind war, nicht so oft gesehen haben. Aber das haben wir längst nachgeholt.“

Spätestens jetzt bekam Lange feuchte Augen – der ganze Familientisch schien relativ nah am Wasser gebaut. Dort saßen auch Tochter Lavinia und Ex-Frau Gabriele Speckbacher. Einen Logenplatz in seinem Herzen hat Lebensgefährtin Thamara Barth. Die Schauspielerin (u.a. „Herzkino“) hatte den Abend gemeinsam mit der Eventmanagerin Brigitte Nußbaum („Trendhouse“) perfekt organisiert.

Am Ende stand sogar das halbe Herzzentrum auf der Bühne, um dem Chef einen eigenen Kliniksong zu widmen. Den Hit „MfG – mit freundlichen Grüßen“ der Fantastischen Vier hatten Langes Mitarbeiter kurzerhand zu „DHM – mit herzlichen Grüßen“ umoperiert. Der nicht ganz ernst gemeinte Refrain: „Für ein Leben voller Blut und Rausch, bevor wir leiden, schneiden wir lieber auf.“

Dabei werden sie künftig ohne Lange auskommen müssen. Er will mit seinem neuen Rennrad, das ihm seine Kollegen und Freunde zum Abschied schenkten, Gas geben, will Jazzgitarre lernen und mit Sohn Enzo den Kilimandscharo besteigen. Wieder mal ein Aufbruch ins Unbekannte für den ewigen Herzchirurgen. Es winken neue Gipfel.

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