Montagmorgen, halb zehn. Wolfgang Maier (59), Strohhut und hellblaues Hemd, sitzt vor der Bäckerei an der Dachauer Straße, gleich ums Eck vom Hauptbahnhof. Der Ebersberger trinkt Kaffee, und wenn er geradeaus schaut, blickt er auf eine kleine Menschentraube. Männer, ein paar Frauen, manche rauchen, einige haben Rucksäcke auf dem Buckel und Bierflaschen in der Hand. Sie stehen vor dem Begegnungszentrum D3. Hier finden Hilfsbedürftige Beratung, einen trockenen Platz, ein Klo, eine Dusche, eine Tasse Kaffee. Maier, dem das Mietshaus gehört, in dem die Bäckerei untergebracht ist, sagt: „So kann das nicht weitergehen.“
Das Gebäude an der Dachauer Straße gehört seiner Familie, seit sein Großvater – einst königlich-bayerischer Hofbäcker – es noch vor dem Zweiten Weltkrieg gekauft hat. In der Zeit hat sich das Bahnhofsviertel verändert, München ist großstädtischer geworden. Das bringt auch soziale Probleme mit sich. Aber zugespitzt hat sich für Maier die Lage, seit seine Immobilie „in die Zange genommen wurde“, wie er sagt. Auf der einen Seite das Begegnungszentrum D3 der Caritas. Auf der anderen Seite, auf dem Parkplatz an der Elisenstraße, ist seit Anfang 2022 eine Suppenküche, ebenfalls betrieben von der Caritas. Die beiden Einrichtungen wirkten wie ein Magnet, sagt Maier. „Vor meinem Haus ist ein Brennpunkt entstanden.“
Das Publikum kommt nicht immer nur zum Essen. Am Vormittag des 2. August wurde Steuerberater Dennis Bauer, seit 2013 einer von Maiers Mietern, von einem Obdachlosen mit Fäusten attackiert – es ging kein Streit voraus, sagt der 43-Jährige, er sei nur mit seinem Hund Gassi gegangen. Er rief die Polizei.
Die kam auch am 5. August, als an der Trambahnhaltestelle ein Streit zwischen zwei Obdachlosen eskalierte: Ein Rumäne stach einem Polen mit dem Messer in den Rücken (wir berichteten). Es ist nicht lange her, da verrichtete ein Obdachloser im Flur des Mehrparteienhauses seine Notdurft. Maier hat Bilder davon, seine Hausmeisterin hat sie gemacht. Immer wieder schlafen Fremde im Treppenhaus. Der Unrat zieht Ratten an. Und jetzt verliert Maier vielleicht sogar bald Mieter.
Auf den Schildern an der Hauswand sieht man, wer Maiers Mieter sind: ein Rechtsanwalt, ein Steuerberater, Ärzte, die Unfallversicherung, ein Lehrerverband. Insgesamt 20 Parteien. Im Erdgeschoss hat Gabriele Holder (59) seit drei Jahren ein Touristenbüro, sie bietet seit 35 Jahren Stadtführungen an. Wenn sie aus dem großen Fenster schaut, blickt sie direkt auf die Suppenküche. Gerade hat diese zwar Sommerpause, aber sonst ist hier einiges los. „Wenn es regnet, kommen die einfach in meinen Laden“, sagt Holder. Oder sie setzten sich auf den kleinen Treppenabsatz und versperrten den Zugang, was die Kunden störe. „Wir haben im Internet schon schlechte Bewertungen bekommen deswegen“, sagt Holder. „Das sind Touristen, die gerade erst ankommen – und dann sehen sie das Chaos hier.“ Weil sich die oftmals betrunkenen Menschen nicht zum Gehen überreden ließen, bekämen manche Mitarbeiter Angst. „Eine schwangere Kollegin hat einmal einfach abgesperrt, weil sie sich nicht mehr zu helfen wusste.“
Auch Ablis Geyret (50), der mit seiner Familie seit zehn Jahren das Uigurische Restaurant „Kashgar“ an der Ecke betreibt, ist genervt: „Ständig werden meine Gäste um Geld angebettelt“, sagt er. Direkt neben den Tischen urinierte neulich eine betrunkene Frau ins Gebüsch. „Das ist so eklig.“ Hungrigen würde er was zu essen geben, sagt er. „Aber ich kann ja nicht alle versorgen.“
Turki Mounir (58) verkauft mit seiner Frau schon seit 18 Jahren Obst und Gemüse an einem Stand direkt neben der Tramstation. „Früher bin ich am Freitag eine halbe Stunde in die Moschee gegangen und habe den Stand alleine lassen können“, sagt er. Jetzt klauten ihm fast täglich Obdachlose Lebensmittel, sobald er sich umdrehe. Als neulich ein Sturzbetrunkener in seinen Stand fiel und alle Erd- und Himbeeren abräumte, entstand Mounir ein Schaden von über 280 Euro. „Einkaufspreis!“, ruft er wütend und zeigt Bilder auf seinem Handy. „Und dann der ganze Dreck!“ Auf dem Parkplatz liegen Müll und Scherben. Gabriele Holder vom Tourismusbüro überlegt schon, ihren Mietvertrag zu kündigen. „Obwohl ich weiß, dass mein Vermieter alles Mögliche unternimmt.“
Wolfgang Maier fühlt sich machtlos. Als er im Frühjahr eine Praxis in dem Haus, das seinem Bruder zur Hälfte gehört, neu vermieten wollte, sprangen zwei ernsthaft Interessierte kurz vor Vertragsunterzeichnung ab – die Gegend schrecke die Kundschaft ab. „Das hat mich echt schockiert“, sagt Maier. Er betont aber auch: „Ich habe ein Herz für Schwache.“
Maier will Lösungen, etwa eine Verlegung der Anlaufstellen. Er hat Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) geschrieben. Und der Caritas, die das D3 führt. Caritas-Sprecherin Bettina Bäumlisberger sagt: „Wir bedauern das, die Vorkommnisse sind ärgerlich, unangenehm und unerfreulich.“ Man versuche ja gerade, durch Begegnungsstätten wie D3, „den Leuten einen Raum zu bieten“. Seit der Hauptbahnhof Großbaustelle sei und ein Alkoholverbot gelte, wichen Obdachlose und Suchtkranke auf die Nebenstraßen aus. „Und natürlich ist das auch der Verschärfung der sozialen Lage in der Stadt geschuldet“, sagt Bäumlisberger. Das D3 sei sieben Tage die Woche geöffnet, mindestens von 8.30 bis 16.30 Uhr – mehr sei nicht finanzierbar. In der Zeit sei stets ein Security-Dienst im Einsatz. Zuständig für das Verhalten von Menschen im öffentlichen Raum sei aber die Stadt.
Dort kennt man die „Problematik im Bahnhofsviertel“, schreibt OB Reiter in seiner Antwort an Maier. Man suche nach Lösungen, habe aber auch schon vieles umgesetzt –das D3 zähle dazu. Das Kreisverwaltungsreferat teilt auf Anfrage mit, dass sich die Situation durch das D3 verbessert habe, weil alkoholkonsumierende Menschen vorher keine Anlaufstelle hatten. Reiter weist darauf hin, dass die Suppenküche nicht nur von Obdachlosen, sondern auch von krisengeplagten bedürftigen Münchnern genutzt werde. Und: „Um die Situation am Bahnhof zu entzerren, bemüht sich das Sozialreferat, Angebote für obdachlose Menschen nicht auf das Bahnhofsviertel zu konzentrieren.“ Reiter schreibt auch: „Bei Belästigungen durch Personen im Gebiet Dachauer/Elisenstraße verständigen Sie bitte sofort die Polizei.“
Die Polizei kennt die Ecke, es komme dort immer wieder zu Einsätzen – allerdings bewegten diese sich in Anzahl und Art in einem unauffälligen Bereich. Wolfgang Maier sieht das anders: „Was muss noch alles passieren, damit dem Treiben hier endlich Einhalt geboten wird?“