Kaum zu glauben: Der Bezirk Neuhausen-Nymphenburg belegt laut aktuellem Münchner Armutsbericht Platz 4 unter den Stadtbezirken mit den ärmsten Münchnern. Daher ist die Präsenz der Münchner Tafel hier besonders wichtig. „Ich bin sehr dankbar für die Tafel und die Arbeit der ehrenamtlichen Mitarbeiter“, sagt Frührentnerin Tatjana A. (56). „Natürlich kostet es auch viel Überwindung, hierher zu kommen“, sagt sie und fügt leise hinzu: „Ich schäme mich manchmal auch.“
Eine der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen bei der Tafel ist Heidi Reisinger, Leiterin der Ausgabestelle und mittlerweile selbst Rentnerin. „Ich arbeite jetzt seit 22 Jahren für die Münchner Tafel in Neuhausen“, sagt sie. Sie kenne eigentlich jeden. Vor allem die Rentner. Und: „Die Nachfrage von älteren Menschen auf die wöchentliche Essenspende steigt.“ Immer freitags zwischen 13 und 16.30 Uhr verteilt Reisinger mit ihrem Team aus weiteren sieben Senioren Nahrungsmittel an Anwohner, die sich die Lebensmittel im Supermarkt nicht leisten können.
Für die Essensausgabe stellt die Stadt München zeitlich begrenzte Berechtigungsscheine aus. „Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie berechtigt sind“, erklärt Tafel-Sprecher Steffen Horak. „Nur, weil sie Ersparnisse – zum Beispiel für ihre Beerdigung – haben, glauben sie, kein Anrecht zu haben. Uns interessiert aber in erster Linie, was die Menschen monatlich auf ihrem Konto haben.“
Zwei Stunden vor der Ausgabe wird die angelieferte Ware inspiziert, portioniert und auf Tische verteilt. „Manchmal ist die Ware auch schlecht und wird aussortiert“, erzählt eine weitere Ehrenamtliche. Vor ihr türmen sich Kisten mit Petersilie, Lauch, Spargel, Pilzen, Brokkoli und Rhabarber. „Uns geht es um Wertschätzung. Wir sind viel mehr als eine Essensausgabe“, erklärt sie.
Dann öffnet sie die großen Fenster, durch die die Waren ihre Besitzer wechseln. Blickt man in die Gesichter der Menschen, die nun nacheinander ans Fenster treten, fällt vor allem eins auf: Beinahe jeder fünfte Bedürftige ist jenseits der 65 Jahre. „Aktuell sind es 144 Personen, die regelmäßig unsere Ausgabestelle im Hinterhof des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums besuchen.
Nach und nach verteilt sie an ihrem Ausgabefenster Brotlaibe und macht Häkchen in der Ausgabeliste. Neben der Ausgabe von Lebensmitteln ist auch immer etwas Zeit für Privates. „Wie geht’s deinem Mann?“, fragt eine Rentnerin Heidi Reisinger. Die Rollenverteilung von Helferin und Bedürftiger ist aufgebrochen. Reisinger wird persönlich. Ihr Blick weich, die Stimme leiser. „Leider nicht gut. Eher schlechter.“
Die Münchner Tafel ist nicht nur eine Verteilstelle für Lebensmittel, sondern auch ein Ort der Begegnung für Menschen, die oft einsam sind. Ratschen für die Seele. Nicht nur an den Fenstern zeigt sich dieser Austausch, er beginnt schon in der Warteschlange. „Jahrelang stand ich mit einer 90-jährigen Frau in der Schlange“, erzählt Tafel-Gast Tatjana A. „Wir haben uns angefreundet, haben sogar Lebensmittel getauscht und uns zusammen über das Essen gefreut. Als sie dann plötzlich gestorben ist, war das sehr schlimm für mich.“
Dass der Gang zur Tafel auch harte Arbeit ist, wird mit einem Blick auf die Tüten und Taschen der älteren Gäste deutlich. Je nach körperlicher Verfassung, verlassen sie mit vollgepackten Tüten und Rollköfferchen den Hof der Schule – oder aber nur mit spärlich gefüllten Tragetaschen. „Ich schaue immer ganz genau, was ich mitnehme. Es ist einfach viel zu schwer für mich“, erzählt Anna E. (78). Die Frau mit Schwerbehindertenausweis geht an manchen Tagen auch mit leeren Händen nach Hause. „Wenn ich in der Schlange zu weit hinten bin, geh ich wieder heim. Stundenlanges Stehen schaffe ich nicht. Vor allem im Winter, wenn’s richtig kalt ist oder bei Hitze im Sommer.“
Das Tafel-Team versucht, die Ausgabe für die Rentner so erträglich wie möglich zu machen. „Das Team geht auf die speziellen Bedürfnisse von Senioren ein“, sagt Susanne Rugel (CSU), Seniorenbeauftragte im örtlichen Bezirksausschuss. Rugel empfindet die Arbeit in Neuhausen-Nymphenburg als vorbildlich und einzigartig in München. Vor allem das System, das Heidi Reisinger etabliert hat, sei gerecht und rentnerfreundlich. „Jeder Gast hat eine feste Nummer. Die Reihenfolge, wer zuerst dran ist, ändert sich jede Woche. So ist jeder mal ganz vorne.“ Auch die Gäste schätzen das rotierende Nummern-System. „Wenn es das nicht gäbe, würden sich hier alle in der Schlange totprügeln“, sagt Tatjana A. „Doch am Ende des Tages ist es für uns Rentner einfach körperlich sehr anstrengend.“