Das Bangen beginnt mit einem Brief. Günther Schwarz (64) hält das Schreiben in den Händen, während er neben seiner Frau Higa (67) zwischen mannshohen Schildern und Werbetafeln steht. Seit 23 Jahren betreiben die beiden eine Firma für Werbetechnik im Gewerbehof Ostbahnhof. Damit soll Ende nächsten Jahres Schluss sein. Mietvertrag gekündigt, steht in dem Brief. „Wir haben jetzt existenzielle Sorgen“, sagt Günther Schwarz. Sie sind nicht die Einzigen, die ausziehen müssen: Insgesamt rund 30 Mietern haben die Münchner Gewerbehöfe (MGH) den Vertrag gekündigt. Darunter Handwerker, Tanzschulen, Künstler und Musiklehrer.
Die MGH planen einen Ersatzbau auf dem Gelände – eine Kombination aus Gewerbehof und Technologiezentrum. Das bisherige Gebäude sei in die Jahre gekommen, heißt es. Nun soll alles moderner, das Flächenangebot vervierfacht werden. Bis 2028 könnte das Vorhaben abgeschlossen sein – wenn alles nach Plan verläuft, sagt MGH-Geschäftsführer Rudolf Boneberger. Rund ein Drittel soll klassischem Gewerbe, zwei Drittel jungen Technologiefirmen aus Bereichen wie Künstlicher Intelligenz oder Nanotechnik zur Verfügung stehen. „Solche Start-ups haben es bisher in München enorm schwer, Flächen zu finden“, so Boneberger. Sie seien jedoch für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes essenziell.
Für Bestandsmieter heißt das jedoch zunächst, dass sie ausziehen müssen. „Für uns ist das eine extreme Belastung“, sagt Schwarz. Zehntausende Euro hatten sie investiert, viel Herzblut in die Räume gesteckt. Was Vergleichbares innerhalb der Stadt zu finden ist enorm schwer. Der Ruhestand sei ebenfalls keine Option: „Wir müssen aus finanziellen Gründen weitermachen.“ Corona habe deutliche Spuren hinterlassen, Lücken in den Finanzplan des Unternehmerpaares gerissen. Gerade ging es wieder bergauf – und jetzt die Kündigung.
Die MGH bietet betroffenen Mietern zwar an, sie bei der Suche nach Alternativen zu unterstützen – auch andere Gewerbehöfe kämen als Ersatz infrage. Der Platz ist allerdings rar: Rund 90 Prozent der Flächen der MGH sind bereits belegt. „Im Zweifel müssen manche Mieter selbst suchen“, sagt Boneberger. Deshalb habe man auch versucht, sie bereits sehr früh zu informieren – über ein Jahr vor dem Auszug. Ob die Betroffenen nach dem Umbau wieder am Ostbahnhof einziehen können, ist nicht unbedingt gesichert. Sie müssten ins Konzept passen, so die MGH. „Das ist eine Katastrophe“, sagt Cinal Cüneyd (45). Seit rund 25 Jahren betreibt seine Familie am Ostbahnhof einen Kfz-Meisterbetrieb. Die meisten Kunden kämen ebenfalls aus der Gegend. „Die werden wir verlieren, wenn wir nichts in der Nähe finden.“ Auch für die Kunden sei es nicht einfach – Cüneyd hat rund 1600 Reifen eingelagert. Sie müssten alle abgeholt werden.
Doch nicht nur Gewerbetreibende sind betroffen: Im Keller befindet sich zum Beispiel ein Zentrum für zeitgenössischen Zirkus. Es dient sowohl als Übungsfläche für Profis als auch als Raum für Kurse. Die Nutzung war zwar von Anfang an befristet, dennoch ist die Enttäuschung da: „Wir hofften, dass es noch etwas länger geht – wir haben uns das hier alles aufgebaut“, sagt Michael Heiduk (42), der das Zentrum betreut.
Grundsätzlich könne Rudolf Boneberger die Sorgen verstehen: „München ist ein extrem schwieriges Pflaster, es gibt fast keine Flächen.“ Dennoch sei der Neubau für die Zukunft des Standorts wichtig.