Entführt – das Wort steht in großen Buchstaben auf einem Plakat. Darunter ist der kleine, nur neun Monate alte Kfir zu sehen, der am 7. Oktober von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurde. Das Plakat hängt neben anderen in einer Unterführung an der Reichenbachbrücke. Auf einem nahen Verteilerkasten sind weitere zu finden. Plakate, die derzeit überall in Deutschland und auf der ganzen Welt auf das Leid der von der Hamas entführten Israelis aufmerksam machen (siehe Kasten). Auf das Schicksal der Schmuckdesignerin Moran Stela Yanai (40) etwa, die beim Musik-Festival nahe Kibbuz Re’im gekidnappt wurde. Oder auf Doron (34) und ihre Töchter Raz (4) und Aviv (2) – alle drei deutsche Staatsbürger. Manche Plakate wurden bereits von einer noch grausameren Realität eingeholt: Yossi Silberman (67) und seine Frau Margit (63) aus Südamerika sind tot. Das hat das peruanische Außenministerium auf der Plattform X (ehemals Twitter) bestätigt. Unsere Zeitung hat sich auf Spurensuche begeben und erzählt die Geschichte der Menschen auf den Plakaten.
Ihre Vorfahren sind Holocaust-Überlebende. Die Kinder und Enkel bauten sich ein Leben in Israel auf. Jetzt wiederholt sich für sie das grausamste Kapitel der Geschichte: Der österreichische Doppelstaatsbürger Tal Shoham (38), seine Frau Adi (38), die dreijährige Tochter Yahel und der achtjährige Sohn Naveh sind bei dem blutigen Überfall, den die Hamas in dem Ort Kibbuz Be’eri verübt hat, verschleppt worden. Von den insgesamt zehn Geiseln dieser Familie sollen vier deutsche Staatsbürger sein, darunter Adis Mutter Shoshan Haran (65), eine deutsche Wissenschaftlerin.
Im kleinen Ort Nir Oz fielen 20 Bewohner dem Angriff zum Opfer, während die Hamas mehrere Dutzend als Geiseln in den Gazastreifen verschleppte – darunter Shiri Bibas (33) mit Ehemann Yarden (34) und ihren beiden Söhnen Ariel (4) und Kfir (9 Monate). In einem verstörenden Video, das im Internet zu sehen ist, hält Shiri ihre beiden Kinder Ariel und Kfir auf dem Arm, in eine Decke gehüllt und mit weit aufgerissenen Augen. Um sie herum bewaffnete Angreifer, die gewaltsam an ihr zerrten, während Menschen um sie herum schrien: „Verschont die Kinder! Lasst die Kinder in Ruhe!“
Chaim Peri (79) kümmert sich seit 30 Jahren um gefährdete Kinder – sowohl aus Israel als auch aus Palästina. Er war Pädagoge und Direktor von Yemin Orde, ein Jugenddorf, das sich seit 1953 auf dem Berg Karmel im Norden Israels befindet und seit jeher ein sicherer Zufluchtsort ist, eine Schule und ein Zuhause für tausende benachteiligter und gefährdeter Jugendlicher. Peri wurde vom früheren israelischen Premierminister Shimon Peres († 2016) mit dem „Guardian of the Child Award“ ausgezeichnet. Peris Tochter berichtet, dass es ihrem Vater beim Einfall der Hamas noch gelungen sei, seine Frau zu retten. Er habe einen Terroristen abgelenkt, damit sie sich verstecken konnte.
Judith Weinstein (70) und ihr Mann Gad Haggai (73) waren auf ihrem Morgenspaziergang, als Schüsse fielen und Raketen über den Himmel schossen. Während des Angriffs soll Weinstein mit ihrer Familie über einen Gruppenchat in Kontakt gestanden haben. Das Ehepaar soll von Terroristen auf Motorrädern beschossen und der Vater schwer verletzt worden sein. Seither sucht die Familie der Verschleppten unermüdlich nach dem Paar. Judith Weinstein wurde in New York geboren und zog mit drei Jahren nach Toronto. Später wurde sie Englischlehrerin und bekam vier Kinder. Sie lebte seit 1995 in Israel. Ihr Gad ist Koch und Jazzmusiker im Ruhestand.
Auch Margalit Moses (77) und ihr Ex-Mann Gadi (79) wurden vermutlich als Geiseln aus Nir Oz in den Gazastreifen verschleppt. Nach Angaben ihres Bruders Chanan Cohan leidet Margalit an Krebs und ist schwer krank. Cohan spricht Deutsch, seine Eltern stammen aus Deutschland, sie waren in den Dreißigerjahren vor den Nazis geflohen. Er selbst hat zehn Jahre in Deutschland gelebt und hat einen deutschen Pass – genau wie seine Schwester Margalit und die fünf weiteren Angehörigen, die die Hamas verschleppt hat: deren früheren Mann Gadi, dessen Frau Efrat, ihre Tochter Doron, 34. Und die Enkeltöchter: Raz, (5) und Aziz (3).