Genau 306 Stufen hat der Alte Peter – das weiß Schreiner Ralf Hinderer (63) genau. „Wir haben sie Mitte der 1980er-Jahre fast alle selbst ausgewechselt.“ Und nicht nur die Stufen sind aus dem Holz der Schreinerei Würzburger, die mit 102 Jahren zu den ältesten der Stadt gehört. Teile des Inneren des Kultusministeriums, der Porzellanmanufaktur Nymphenburg, des National- und Gärtnerplatztheaters, der Maximilians- und der Asamkirche – das sind nur einige Beispiele, die das Traditionsunternehmen in München einst mitgestaltet hat.
Der Gründer Theo Würzburger sei „gut mit der Kirche verbandelt“ gewesen, erzählt der heutige Seniorchef Ralf Hinderer, der 1977 dort seine Lehre begann. Damals noch an der Westermühlstraße im Glockenbachviertel. „Da ist viel vor meiner Zeit passiert. Aber auch wir waren noch oft in der Asamkirche, haben an den Eingangstüren oder am Altar gearbeitet. Manche wissen gar nicht, dass da fast nichts aus Marmor ist. Das meiste ist aus Holz gefertigt und dann von Malern marmoriert worden.“ Auch der Alte Peter habe die Firma lange beschäftigt: „Wir haben die Tore, Seitenaltäre und die Orgel restauriert – und fürs Pfarrhaus und Archiv Möbel angefertigt.“
Den Grundstein für die Bekanntheit des Unternehmens hatte einst Theo Würzburger mit einer genialen Idee gelegt: der „Bügelplatte Immerglatt“, die dieser 1934 patentieren ließ und in alle Welt verkaufte. Bis dato hatten Schneiderbetriebe Buchenholzplatten, die sich durch die heißen Bügeleisen verzogen. „Nach langem Herumlaborieren“, wie er in seinen Memoiren schreibt, erfand er eine hitzebeständige Konstruktion aus Holz und Holzfaser – eine Art Spanplatte. „Mein Betrieb war mit ihrer Herstellung vollkommen ausgelastet“, heißt es weiter. Würzburger beschäftigte zu dieser Zeit schon bis zu 30 Mitarbeiter.
Heute ist Ralf Hinderer, der das Geschäft 1998 übernahm, stolz auf seine 49 Mitarbeiter, die in der modernen, 3000 Quadratmeter großen Schreinerei, mittlerweile in Obersendling, arbeiten. Vornehmlich an Computern und hochtechnisierten Geräten, die beispielsweise die auf der Holzplatte aufgebrachten Etiketten auslesen und dann selbstständig schneiden, fräsen oder bohren. „Es hat sich sehr viel geändert“, sagt der 63-jährige Seniorchef. „Die alte Zeit hatte Vor- und Nachteile. Das war wirklich harte körperliche Arbeit damals. Wir mussten früher alles selber in den Maschinenraum runtertragen. Ich habe vier kaputte Bandscheiben davongetragen. Und lackiert wurde noch ganz ohne Maske. Andererseits war es auch schön, dass man alles noch selbst per Hand gemacht hat: bauen, liefern, einbauen.“ Was heute der Computer entwirft, hat der junge Ralf Hinderer noch mit Papier und Bleistift gezeichnet. „Details in Originalgröße 1:1, und das teilweise auf dem Fußboden.“
Seine Liebe zur Schreinerei habe Ralf Hinderer auch der Schule zu verdanken. „Da hat man noch viele handwerkliche Tätigkeiten gelernt, das hat mir von Anfang an Spaß gemacht. Schade, dass es das kaum mehr gibt. Bestimmt mit ein Grund, dass der Nachwuchs im Handwerk fehlt.“ Die Schreinerei Würzburger hat selbst keinen Nachwuchsmangel. „Wir bilden derzeit sechs Lehrlinge aus – aber wir sind auch gut öffentlich erreichbar. Vielen Kollegen im Umland geht es da anders.“
Die Arbeit für Kirchen spielt keine Rolle mehr, fast alle Kunden sind privat und wünschen sich individuelle Möbel-Lösungen für ihr Eigenheim. „Klar sehen wir, dass das Geld in Zeiten der Inflation für etwa einen Einbauschrank nicht mehr so locker sitzt. Aber wir sind zuversichtlich, dass sich das wieder ändert,“ sagt Junior-Chef Felix Hinderer (36).
Seinen Vater kann ohnehin nichts erschüttern. Für ihn war es nie eine Frage, das Handwerk aufzugeben. „Nach der Schule auf dem Arbeitsamt hat man mir von der Schreinerei abgeraten, die habe keine Zukunft. Zum Glück habe ich nicht darauf gehört.“ Er habe das Geschäft mit Schulden übernommen und sich hochgekämpft. Ralf Hinderer hat die Schreinerei immer auch als Hobby betrachtet, zeitweise bis zu 20 Stunden am Tag gearbeitet. „So langsam aber denke ich an die Rente.“ Er weiß, dass sein Sohn das Traditionsunternehmen weiterführen wird. Und wenn er Sehnsucht nach der guten alten Zeit hat, dann muss er nur in Münchens Kirchen gehen. Da findet er noch das ein oder andere Werk, das er einmal mit den eigenen Händen geschaffen hat.