Berlin – Siegfried Brockmann hat sich einen Namen als Verkehrssicherheits-Experte gemacht. Seit 2006 ist er Leiter der Unfallforschung der Versicherer, die mit ihren Studien einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit auf Deutschlands Straßen leistet. Kurz vor seinem Eintritt in den Ruhestand spricht der 65-Jährige über Entwicklungen und Perspektiven im Verkehr.
Von welchen Zielen müssen wir uns im Straßenverkehr verabschieden?
Man muss sich meiner Meinung nach davon verabschieden, keine Unfalltoten mehr haben zu können. Das ist selbst dann unmöglich, wenn es gar kein Kraftfahrzeug mehr gäbe. Manch einer mag nun einwenden: Ja, wenn die Autos erst einmal alle voll automatisiert fahren, dann machen die ja keine Fehler mehr. Doch wir haben weiterhin andere Verkehrsteilnehmer wie Motorräder oder Fahrräder. Und ich kann auch als Fußgänger so schwer stürzen, dass ich ums Leben komme. Vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft werden wir sowieso zunehmend Probleme bekommen. Deshalb sind null Verkehrstote aus meiner Sicht völlig irreal.
Was braucht es, um heute heil durch den Straßenverkehr zu kommen?
Ein großes Auto.
Wie bitte?
(lacht) Können Sie hier bitte ein Zwinker-Emoji drucken? Aber im Ernst. Der Trend zum SUV kommt ja nicht von ungefähr. Mit einem großen SUV, rücksichtsvoll und vorsichtig gefahren, ist man am sichersten unterwegs.
Diese Aussage wird Umweltschützer nicht freuen.
Das weiß ich. Ich bin persönlich auch kein Fan von SUVs. Ein großer SUV ist beispielsweise für jeden Unfallgegner sehr unangenehm. Und umweltpolitisch ist der Trend zu immer größeren und schwereren Autos natürlich komplett kontraproduktiv. Aber die Motivation, einen SUV zu kaufen, hängt nicht nur am Thema Sicherheit. Gerade Frauen sitzen gerne hoch. Und für alte Leute ist es einfacher, ins Auto hinein- und hinaus zu kommen. Das ist vergleichbar mit einem Boxspringbett, bei dem ich beim Aufstehen auch sofort auf den Füßen stehe.
Die Aggression im Verkehr ist deutlich gestiegen . . .
Der Verkehr ist ein Teil des gesellschaftlichen Gesamtsystems und spiegelt es somit wider. Wir sind es mittlerweile gewohnt, unsere eigenen Interessen als die wichtigsten anzusehen. Das Verkehrssystem und die Verkehrsverdichtung bieten leider viele Gelegenheiten, sich darüber zu ärgern, dass man nicht vorankommt: rote Ampeln, Fußgänger, Radfahrer. Manche Menschen kommen damit nicht so gut klar wie andere. Und diese Menschen haben mit einem Auto nun eine legale Waffe zur Hand.
Befürworten Sie ein Tempolimit?
Auf Autobahnen: ja. Aber ich würde mich nicht auf 130 km/h festlegen. Es fehlt an dieser Stelle der wissenschaftliche Background. Wir können mit dem wenigen Material aus unserer Unfalldatenbank ungefähr einschätzen, was ein Tempolimit bringen könnte – wenn es durch entsprechende Kontrollen durchgesetzt wird. Das Potenzial ist bei Weitem nicht so hoch, wie man glaubt. Laut unseren Daten könnten ungefähr fünf Prozent der Toten auf Autobahnen durch ein Tempolimit vermieden werden.
Was ist das größte Problem bei den hohen Geschwindigkeiten?
Das Hauptproblem auf den Autobahnen sind meiner Meinung nach die hohen Differenz-Geschwindigkeiten: rechts wird 80, in der Mitte 130 gefahren. Und links wird gerast. Wenn auf allen Spuren die gleiche Geschwindigkeit gefahren würde, wären viele Probleme durch plötzliche Ausweich- und Bremsmanöver obsolet. Wenn alle ungefähr gleich schnell fahren, muss man nicht mehr überholen. Damit würde der größte Risikofaktor auf Autobahnen ausgeschlossen. Deshalb frage ich: Warum diskutieren wir nicht über ein Tempolimit von 140 oder 150 km/h? Das würde ebenfalls eine homogene Geschwindigkeit gewährleisten. Und hätte dabei einen Vorteil: Über 90 Prozent aller Verkehrsteilnehmer auf der Autobahn fahren eh nicht schneller als 140. Da hätten wir sofort eine breite gesellschaftliche Mehrheit.
Ebenfalls ein Aufreger ist eine Fahrtauglichkeitsprüfung für ältere Menschen.
Ich bin tatsächlich der Meinung, dass hier Maßnahmen erforderlich sind, weil wir statistisch ein Problem jenseits der 75 Jahre haben. Legt man die in aller Regel geringe Fahrleistung von Senioren zugrunde, fahren sie genauso riskant wie die Gruppe der 18- bis 21-Jährigen – das ist schon eine Hausnummer. Es sollte also etwas getan werden.
Was konkret?
Aus wissenschaftlicher Sicht ist einzig und allein die MPU (Anm. d. Red.: Medizinisch-Psychologische Untersuchung) ein zuverlässiges Instrument. Diese MPU kostet allerdings mehrere hundert Euro. Wir brauchen eine recht zuverlässige Screening-Maßnahme, die auch bezahlbar wäre, also nicht mehr als 100 Euro. Deshalb haben wir von der Unfallforschung gesagt: Wir wollen eine begleitete, 45-minütige Rückmeldefahrt mit einem Fahrlehrer für Menschen ab 75. Die Teilnehmer bekommen danach von einem Profi die Rückmeldung, was gut und was schlecht gelaufen ist – und wie man sich verhalten sollte.
Dass man zum Beispiel als Senior auf Stadtfahrten verzichten sollte . . .
Genau. Für viele Senioren auf dem Land dürfte es gar kein Problem sein, bekannte Strecken zu fahren. Dort ist wenig Verkehr. Die Senioren können nach diesen Rückmeldefahrten selbst entscheiden, wie sie mit dem Ergebnis umgehen. Das sind ja keine Dummköpfe, nur weil sie 75 sind. Aber viele von ihnen können ihr eigenes Fahrkönnen eben nur schlecht selbst einschätzen. So erhalten sie von einem Fahrlehrer eine knallharte Einschätzung, wozu sie in der Lage sind und wozu nicht. Ich bin davon überzeugt: Die meisten würden sich daran orientieren.
Interview: Jens Greinke