100 Jahre und zwei Welten

von Redaktion

VON LEA WARMEDINGER

Es ist 1924. Der Kugelschreiber und Nagellack sind noch nicht erfunden. In vielen Häusern gibt es noch nicht einmal Strom. Doch Eugen Dragoman gibt es schon. Mit den Kindern aus dem Dorf spielt er mit einem Ball aus Lappen Fußball und den Früchten von stacheligen Sträuchern Boccia, weil es auch noch keine Spielsachen aus Plastik gibt. Dragoman wächst als Sohn eines Lehrers im früheren Siebenbürgen in Rumänien auf, in einem kleinen Dorf, 30 Kilometer von Hermannstadt.

Nicht viele Menschen werden so alt, dass sie aus dieser Zeit erzählen können. Eugen Dragoman hat es geschafft, 100 Jahre alt zu werden und sich trotzdem glasklar zu erinnern.

Heute lebt er in einer völlig anderen Welt: Die Menschen kommunizieren hauptsächlich über ihre Handys, Künstliche Intelligenz steuert Autos. Doch auch in dieser Welt, auch mit 100 Jahren, findet sich der Münchner gut zurecht. Er ist völlig gesund, nur ein Hörgerät braucht er mittlerweile.

Er ist mit einer grauen Weste schick angezogen, den obersten Knopf an seinem Hemd hat er lässig offen gelassen. Er sitzt auf dem Ledersofa in seiner Wohnung in Waldtrudering und erzählt stolz von seinen beiden Enkelinnen, die einer Familientradition folgten und auch Lehrerinnen geworden sind. „Genau wie der Uropa.“ Lächelnd zeigt er auf die vielen bunten Bilderrahmen und Karten mit Fotos von der Familie, die auf dem Tisch stehen.

Eugen Dragoman hat wache Augen und lacht viel, wenn er von seinem Leben erzählt. Jeden Tag liest er Zeitung. Er macht sich sein Essen selbst und pflegt den Garten. „Und nur 200 Meter von hier ist der Wald. Da gehe ich gern walken.“

Der 100-Jährige hat eine einfache Erklärung, wie man gesund so alt wird: „Ich habe eine innere Ruhe und war immer in Bewegung.“ Damit meint er nicht nur das Radfahren, Wandern und Langlaufen. Auch als Chirurg ist er viel herumgekommen.

1948 begann Dragoman in Hermannstadt als Kinderchirurg zu arbeiten. Im Alter von 50 Jahren kam er nach Deutschland, wo er in insgesamt sieben Krankenhäusern beschäftigt war. Er ist stolz auf das, was er geleistet hat, und hat bei seiner Arbeit als Chirurg viele Menschen kennengelernt, erzählt er. Auch nach der Pensionierung konnte er nicht von seinem Beruf lassen: Zehn weitere Jahre übernahm er Vertretungen in der Unfall-Chirurgie. In dieser Zeit arbeitete er in ganz Deutschland.

In seiner freien Zeit achtete er sehr auf seine Gesundheit: Als er in einer Praxis im baden-württembergischen Landkreis Lörrach war, nutzte Dragoman jeden Freitag, um in die Thermalbäder in Bad Säckingen zu gehen. Er schwört auf ihre heilende Wirkung. Ganz nah an der Grenze zu den Niederlanden war eine weitere Praxis. „Da bin ich am Wochenende immer mit dem Fahrrad durch Holland gefahren.“

Sein Alter hielt Eugen Dragoman nie davon ab, in Bewegung zu bleiben – und sogar um die Welt zu reisen. Seit 1995 flog er jeden Winter für sechs Wochen nach Mallorca. Da traf er sich mit einer Gruppe von Gleichgesinnten, die er dort kennengelernt hatte, um zu wandern und Boccia zu spielen. Sogar mit stolzen 96 Jahren flog er noch alleine nach Spanien.

An seiner Wand hat der 100-Jährige viele Bilder. Beim Blick auf ein schwarz-weißes Foto hält er inne und sein Gesicht wird nachdenklich. Es zeigt die junge Familie im Sommer 1958, bevor sein Sohn Eugen mit nur fünf Jahren an einer Krankheit starb. „Da waren wir noch glücklich“, sagt er traurig.

Nach Deutschland auszuwandern, hatte die Familie eigentlich nicht geplant, sie kam nur zum Urlaub hierher. Doch daheim in Rumänien wurde die Familie enteignet und verlor ihr Haus. „Also blieben wir da.“

2001 ist Eugen Dragomans Frau Emilie gestorben. Rund zehn Jahre später erkämpfte er sich vor Gericht sein Haus in der Heimat zurück. Genau dort wird er im Mai hinfliegen und den Sommer über bleiben. Und vielleicht wird er ein bisschen was von seiner früheren Welt zurückbekommen. Denn wie schon als Kind, wird der 100-Jährige viel Zeit in der Natur verbringen. Er hat vor, im Garten zu arbeiten und im Park zu walken. Aber am allermeisten freut er sich auf seine Familie.

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