Hoch die Hände – Dreh zu Ende! Diesmal habe ich mitgezählt: Wäre ich ein normaler Arbeitnehmer mit einer 40-Stunden-Woche, dürfte ich mir jetzt drei bis vier Wochen freinehmen zum Überstundenausgleich. Aber weil ich der spießigste Künstler Deutschlands bin, gestatte ich mir ganze drei Tage, guten Gewissens die Füße hochzulegen. In dieser Zeit hole ich nach, was ich in den letzten Monaten versäumt habe. Früher waren das Kneipenabende. Heute sind es Arztbesuche. Ich bin eben kein Jungregisseur mehr, sondern Midlifecrisis-Regisseur.
Das interessanteste Phänomen bei jedem Arztbesuch ist das Wartezimmer. Es scheint, als würden wir alle verwandelt, sobald wir unsere Gesundheitskarte in ein Lesegerät stecken. Alte Bekannte nicken sich nur kurz zu und ignorieren sich danach. Als mache es einen Unterschied, ob man sich beim Dorffest oder bei der Darmspiegelung begegnet! Andere Menschen zeigen unerwartete Charakterzüge: Meine Freundin Nadine zum Beispiel forscht im Hauptberuf über das Wesen des Nichts – im Wartezimmer greift sie nach den ausgelegten Boulevard-Magazinen und freut sich über das Liebesglück von Steffi Grafs Sohn. Wiederum andere, das habe ich wirklich schon erlebt, spionieren ihre Sitznachbarn aus. Sie warten, bis ein Patient aufgerufen wird und googeln drauflos. Das Wartezimmer einer Arztpraxis ist der einzige Ort, an dem die Prinzessin von X und Y lieber Claudia Müller hieße.
Vielleicht ist auch Herr T. im wahren Leben ein geselliger und herzlicher Typ. Als ich mir diese Woche mit ihm das Wartezimmer einer Münchner Praxis teilte, war er allerdings eher das Gegenteil davon. In der Praxis herrschte an diesem Nachmittag ein krankheitsbedingter Personalengpass. Herr T. fand es trotzdem skandalös, dass er bei seinen Gängen zum Empfangstresen von zwei verschiedenen Mitarbeiterinnen der Praxis betreut wurde. Man stelle sich vor: Er musste die gleiche Frage zwei Mal beantworten. Gleichzeitig monierte er, dass ihn die zweite Kollegin nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Den hätte er nämlich sehr gern zwei Mal gesagt, laut und bedeutungsvoll. Ungefragt erklärte Herr T. allen Wartenden, was die jungen Frauen am Empfang gerade falsch machten – und dass seine Geduld bald am Ende sei. Es gibt Menschen, die haben Angst vor einer Untersuchung und werden deshalb schroff und laut. Vielleicht ist der Herr T. so jemand. Vielleicht ist er aber auch einfach nur ein Depp. So oder so wünsche ich Herrn T., dass er schnell gesund wird und nicht mehr zum Arzt muss. Das ist das Beste für alle.
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