Noch sind drei Wochen Sommerferien, aber über uns hängt ein Damoklesschwert: das Schreiben des Mathematiklehrers vom letzten Schultag: „Liebe Klasse 5B“, stand da, „tolles Schuljahr“ und so weiter und dann versteckt zwischen vielen „falls möglich“ ein echter Hammer: „Falls möglich“ sollten die Schüler doch auch die Sommerferien nutzen, sich noch mal den Stoff des vergangenen Jahres anzuschauen, als Vorbereitung aufs neue Schuljahr. „Trotz allem schöne Ferien!“
Man kann sich vorstellen, mit welcher marianengrabentiefen Stimmung unsere Tochter uns das Schreiben überreichte – wir hielten es noch nicht in der Hand, da sagte sie schon: „Das mache ich auf gar keinen Fall, ich habe Ferien!“ Wäre eine Tür da gewesen, hätte sie sie zugeknallt. Mein erster Gedanke: „Ach komm, ein paar Stunden Mathe? Lieber entspannt am 20. August als gestresst am 20. September?“ Dann boxte der zweite Gedanke den ersten weg: Ferien sind Ferien sind Ferien. Der heiße Herbst kommt noch früh genug.
Ohne die große Nostalgiekiste aus dem Gedankendachboden zu holen und auszupacken: „Gefühlt“ habe ich in den 80er- und 90er-Jahren in den Sommerferien kein einziges Mal den Schulranzen aufgemacht, sondern sechs Wochen lang im Freibad Flutsch-Finger gegessen. Wobei eine Beschäftigung mit dem Schulranzen damals gut gewesen wäre: vor allem wegen des Pausenbrotes vom 27. Juli 1992, das ich am 10. September 1992 grüngrau im Schulranzen wiederfand.
Sollen Ferien nur Ferien sein? Argumente für Ja: Man kann in den Sommerferien viel mehr lernen, als noch mal zu wiederholen, was die Wurzel aus drei Äpfel mal zwei Birnen ist – und mit „Lernen“ ist noch nicht mal „Kids-Töpfer-Camp“ oder die „Bambini-Fußball-Woche“ gemeint, sondern viel mehr: Auf welche Ideen kommen wir, wenn wir mal nichts tun müssen? Argument für Nein: Je mehr man die Ferien als „frei“ überhöht, desto düsterer ist die Rückkehr in die Schule – ab und zu mal der Wahrheit ins Gesicht schauen, hat noch nie geschadet.
Der aktuelle Stand: Wir sind unentschlossen. Es muss doch ein „sowohl als auch“ geben! Ich werde ein Buch schreiben „Mathe lernen ohne dass du es merkst (also wirklich nicht)“. Zum Beispiel für die Situation „Eis im Schwimmbad/Strand“: „Ah, Schatz, du willst dir ein Cornetto kaufen? Mich würde wahnsinnig interessieren, wie groß das Volumen dieses Erdbeer-Zylinders ist, der sich durch das Eis zieht, kannst du mir das ausrechnen?“ Oder für die Situation „beliebiger Ferienmorgen“: „Guten Morgen, du hast zehn Stunden geschlafen und liegst jetzt schon seit drei Stunden im Bett und liest. Eine Frage: Wenn Peter das ein Jahr lang an jedem Samstag und Sonntag machen würde, wie lange würde er schlafen? Und wie alt müsste Peter werden, um eine Million solcher Wochenenden zu verbringen?“
Ich kann mir viele solche Aufgaben ausdenken, denn ich habe ja Zeit, wenn ich Wände streiche, Fotos ordne und den Speicher aufräume. All das steht auf jenem Brief, den ich mir am ersten Ferientag geschrieben habe, man könnte ihn auch To-do-Liste nennen. Ich warte auf den Moment, dass meine Frau ihn nimmt, zerreißt und sagt: „Lass es einfach. Der heiße Herbst kommt noch früh genug. Leg dich erst mal ins Bett und schlaf zehn Stunden!“
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