„Man braucht ein dickes Fell, aber gleichzeitig eine dünne Haut“, sagt Katrin Breu. Sie arbeitet seit fast 40 Jahren in Heimen. Seit März 2023 leitet sie das Münchner Waisenhaus. © Michaela Stache
Eine Mama ist schwer depressiv – sie kann sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern. Ein Mädchen wird immer wieder eingesperrt, mit 16 soll es verheiratet werden. Zwei Beispiele von Kindern in Not, die im Münchner Waisenhaus eine zweite Heimat gefunden haben. Heuer wird der Zufluchtsort in Nymphenburg 125 Jahre alt. Chefin Katrin Breu (58) spricht im Interview über Freud und Leid, die im Haus nah beieinander liegen.
Frau Breu, Sie wirken etwas angespannt.
Wir kriegen heute vielleicht ein neues Kind als Notaufnahme.
Was hängt da alles dran?
Normalerweise sind wir entspannt, wenn wir ein Kind in Obhut bekommen. Es läuft so ab, dass Sozialbürgerhäuser oder Jugendämter uns fragen, ob wir ein Kind aufnehmen können. Wir laden das Kind dann ein, lernen uns kennen und dann entscheiden wir, ob wir es aufnehmen. Wenn wir einen passenden Platz haben, machen wir das im Regelfall. Allerdings haben in diesem aktuellen Fall alle freien Träger die Aufnahme dieses besonderen Kindes abgelehnt. Als städtisches Heim sind wir gesetzlich in der Pflicht, ein Kind, das sich in einer Krisensituation befindet, zu versorgen. Eine angefragte Inobhutnahme bedeutet deshalb im Gegensatz zum Regelfall immer erhöhten Stress, weil das Personal ad hoc ein Kind aufnehmen muss, das wir nicht kennen — und wir es trotzdem schaffen müssen, dass es sich so gut wie möglich aufgehoben fühlt.
Was macht dieses Kind besonders?
Es braucht viel Begleitung, in jedem Fall ist zusätzliches Personal vonnöten. Oft müssen diese Kinder einzeln betreut werden. Sie können in der Gruppe nicht gut sein, weil sie ständig getriggert werden.
Haben alle Kinder mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen?
Viele sind traumatisiert. Wir sind mit dem Stadtjugendamt, mit unserer Abteilung, Vorreiter in der Einführung von traumapädagogischen Ansätzen und Methoden. Alle Mitarbeiter sind darin geschult. Oft wissen wir nämlich nicht, was zu Hause los war, ob ein Kind beispielsweise sexuell missbraucht wurde. Mithilfe traumapädagogischer Ansätze versuchen wir zu schauen, was hinter einem Verhalten liegt.
Leben auch Kleinkinder bei Ihnen?
Ja, wir haben zwei Schutzstellen, Dori und Nemo, für Null- bis Vierjährige.
Was sind Schutzstellen?
Das kann man sich wie eine Notaufnahme im Krankenhaus vorstellen. Die Leitstelle Kinderschutz oder die Sozialbürgerhäuser rufen an und sagen: Wir hätten jetzt akut ein Kind in Obhut zu nehmen.
Ist das für die Kinder nicht oft hart?
Für die kleinen Kinder ist es natürlich allein schon das Trennungsthema, von der Mama weggenommen zu werden. Ihnen kann man aufgrund ihres jungen Alters noch nicht so viel erklären. Ich war sieben Jahre Gruppenleitung bei den Kleinen und habe dann gesagt: Ich muss jetzt mal eine Pause machen, das schaffe ich emotional nicht mehr. Denn man weiß genau: Man tut dem Kind jetzt nichts Gutes, wenn man nach der Arbeit nach Hause geht, wenn es sich an dich klammert. An manchen Tagen war das schon schlimm.
Wann kommen Kinder oder Jugendliche ins Heim?
Wenn alle Hilfen, die es sonst gibt – ambulante Erziehungshilfe oder Erziehungsberatung, teilstationäre Hilfen –, wenn das alles nicht ausreicht und die Kinder nicht mehr geschützt oder in ihrer Entwicklung stark beeinträchtigt sind, dann greift die Heimunterbringung. Meistens ist es so, dass die Eltern einverstanden sind, sich oft auch selbst beim Jugendamt melden. Wenn die Eltern sich wehren, dann ist es natürlich schwierig, dass auch das Kind die Unterbringung als Hilfe akzeptiert – und nicht als Strafe.
Was ist das Ziel?
Wir sollen bestrebt sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Kinder wieder in die Herkunftsfamilie zurückkönnen. Das gibt uns das Kinder- und Jugendhilfegesetz vor. Dabei sollen auch die Eltern gefördert werden. Bei ungefähr einem Drittel gelingt die Rückkehr in die Familie. Bei manchen erst nach vielen Jahren, wenn die Kinder selbstständig sind. Aber wir lassen die Eltern immer oben als wichtigste Bezugsperson, wir gehen da nicht in Konkurrenz.
Leben auch Waisenkinder im Haus?
Wir haben auch ein paar Waisen, die ihre Eltern durch Kriege oder Krankheiten verloren haben.
Ist der Name Waisenhaus dann überhaupt noch zutreffend?
Das Namensrecht liegt beim Rat der Waisenhausstiftung. Wir hatten auch mal überlegt, ihn zu ändern, ein bisschen moderner zu machen – für die Kinder ist es ja auch immer doof zu sagen: Ich wohne im Waisenhaus. Jetzt sagen die Kinder: Ich wohne in der Wohngruppe, und die heißt Panda oder Elfenbein. Aber Waisenhaus ist Waisenhaus. Wir arrangieren uns damit. Es ist eben der alte Name. Wir haben eine lange Geschichte, die hier mit dem Stadtteil eng verbunden ist. Aber natürlich hat sich der Charakter komplett verändert.
Inwiefern?
Wir haben uns verabschiedet von den großen Schlafsälen, wie es früher war. Als „die Zöglinge“, wie sie damals hießen, geschlossen in Gruppen zum Zähneputzen gingen. Das ist natürlich heute nicht mehr so. Nach dem Krieg hat Andreas Mehringer das Familienprinzip mit kleinen, abgeschlossenen Wohngruppen eingeführt, und das ist über den Lauf der Zeit immer fachlicher und individueller geworden.
Wie sehen die Wohngruppen heute aus?
Eine Wohngruppe hat acht bis neun Plätze. Zwei Kinder teilen sich immer ein Zimmer. Wie in einer Wohngemeinschaft isst man zusammen und verbringt gemeinsam Zeit.
Wie gestaltet sich der Alltag?
Die Tage sind unter der Woche ziemlich gefüllt. Vormittags Schule oder Kindergarten, dann ist hier im Haus Mittagessen. Die Tagesabläufe sind unterschiedlich. Manche Gruppen gehen erst ein bisschen raus zum Toben und machen dann die Hausaufgaben. Es gibt Lernzeiten, Therapien, Elternbesuche, Arztbesuche, Gartenzeit – der Garten ist immer ein Highlight.
Sind die Kinder eigentlich gerne hier?
Für die meisten ist es o.k., hier zu sein. Denn sie wissen um die Umstände. Es wird sehr viel angeboten: tiergestützte Therapie, Ausflüge, Ferienfahrten, Feste. Wir sind viel unterwegs und haben immer wieder Kooperationen. So wie jetzt mit den Basketballern vom FC Bayern. Das ist natürlich schon toll für die Kinder.
Freud und Leid scheinen im Waisenhaus also nah beieinander zu liegen.
Das ist richtig, sehr nah. Und das switcht auch ganz schnell hin und her. Die Kinder bei uns finden es oft so cool, was sie gemacht haben – und sind dann wieder ganz traurig, weil zu Hause irgendetwas passiert ist.
Haben Sie einen Wunsch?
Straffere Prozesse. Oft dauert es unfassbar lang, bis alle Gutachten vorliegen, die der Richter braucht, um ein Urteil zu sprechen, wie es mit dem Kind weitergeht. Bis alles durch ist, kann es ein Jahr oder länger dauern, obwohl nur drei Monate vorgesehen sind – das ist Lebenszeit des Kindes.
INTERVIEW: DANIELA POHL