Wer wegschaut, macht sich strafbar, warnt Bundespolizist Jens Habben. © M. Hangen (2)
Schusswechsel, Schlägereien, Messerangriffe. Jens Habben (55) hat schon viel erlebt. Seit 37 Jahren ist der Bundespolizist beruflich auf der Straße unterwegs, erst im hohen Norden, wo er herkommt, seit 2004 in Bayern. „Die Gewalt hat zugenommen“, sagt der Jugend- und Präventionsbeamte, der privat Coach in einem Boxstudio ist. Die Halbwüchsigen nehmen ihn ernst, „ich glaube, weil ich schon viel erlebt habe und weiß, wovon ich spreche“.
Sein Wissen und seine Erfahrungen gibt Habben seit 2020 in Zivilcourage-Kursen weiter, die von der Aktion Münchner Fahrgäste mit anderen Vereinen und Institutionen, darunter dem Dominik-Brunner-Förderverein, veranstaltet werden. Er spricht viel an Schulen, vor Jugendlichen und Erwachsenen. Der Bedarf sei groß. „Wir brauchen mehr Zivilcourage. Es geht nicht darum, den Helden zu spielen.“ Im Interview erklärt der Polizeioberkommissar, warum viele wegschauen, und gibt Tipps für Notsituationen.
Herr Habben, was erwartet die Teilnehmer in Ihren Zivilcourage-Kursen?
Zum einen gibt es die Theorie: Wie betätigt man zum Beispiel einen Defibrillator. Mein Part ist dann eher die Praxis, Rollenspiele. Ich will die Leute aus ihrer Komfortzone locken. Gleich zu Beginn werden sie ins kalte Wasser geschubst, sie müssen sich überwinden, miteinander zu sprechen und gemeinsam eine Aufgabe zu bewältigen, obwohl sie sich nicht kennen.
Fällt das vielen schwer?
Sehr schwer. Aber irgendwann kristallisiert sich meistens ein Chef heraus, der Anweisungen gibt, einfach weil es ihm reicht und er was voranbringen will. Und das ist oft eine ganz unscheinbare Person. Die anderen sind oft erleichtert, dass ihnen die Entscheidung abgenommen wird.
Gibt es da Parallelen zu Notsituationen im echten Leben?
Genau. Viele schauen weg, wenn jemand Hilfe braucht.
Warum ist das so?
Zum einen sind viele mit sich selbst beschäftigt, sie schauen in ihr Handy, sie haben Stöpsel im Ohr, sind dadurch ohnehin extra abgeschottet. Dann gibt es die Angst, was falsch zu machen, die Situation falsch einzuschätzen. Deshalb tun sie lieber nichts. Aber Nichtstun ist das Einzige, was man falsch machen kann. Und das wird unter Umständen auch geahndet: Wer in so einer Situation nicht hilft, macht sich strafbar wegen unterlassener Hilfeleistung.
Wie kann man helfen?
Auf keinen Fall den Helden spielen. Das kann böse Folgen haben. Am wichtigsten ist die Interaktion mit anderen. Daher das eingangs erwähnte Rollenspiel. Man kann entweder selbst die Polizei rufen oder in der U-Bahn die Sprechstelle betätigen, um mit dem Fahrer in Kontakt zu treten. Und man sollte Anweisungen gezielt an andere Passanten richten – wie: „Sie mit dem schwarzen Shirt, helfen Sie mir mal“. Einfach unspezifisch „Hilfe“ zu rufen bewegt meistens niemanden.
Was ist mit Zeugenaussagen?
Jede Beobachtung wie Auffälligkeiten, Tattoos oder Tatkleidung kann der Polizei später weiterhelfen, vor allem wenn es um die spätere Kamera-Auswertung geht. Am Ende sind aber viele Zeugen verwundert, wie wenig sie sich gemerkt haben. Gerne auch ein Handy-Foto machen, aber dann nur ganz unauffällig, damit der Täter nicht aufmerksam wird.
Was raten Sie, wenn man sich selbst in einer gefährlichen Situation befindet?
Wenn es irgendwie geht: wegrennen. Wenn das nicht geht, gilt auch hier: Passanten persönlich ansprechen. Auch direkte Worte wie „Fassen Sie mich nicht an“ können dabei helfen, die Aufmerksamkeit von Passanten auf sich zu ziehen. Die Erfahrung zeigt, dass viele Opfer in Bedrohungssituationen erstarren und sich nicht bemerkbar machen können. Die Überwindung der Handlungsunfähigkeit kann trainiert werden.
INTERVIEW: DANIELA POHL