„Von edlem Wesen“ bedeutet der Ordensname von Schwester Talida, hier in der Kirche ihres Ordens. © Marcus Schlaf
Dem Himmel so nah: Schwester Talida Rieder (l.) und Schwester Jutta Neumann fliegen im Kettenkarussell über die Auer Dult (im Hintergrund ist die Mariahilf-Kirche). © Jens Hartmann
Von wegen entrückt von der Welt und zurückgezogen hinter Klostermauern lebend: Schwester Talida Rieder vom Orden der Armen Schulschwestern ist voll auf der Höhe der Zeit, verfolgt das Weltgeschehen aus der täglichen Zeitung – und ist im Gespräch mit Jung und Alt. Dass sie heute 85 Jahre alt wird, sind die einzigen Glaubenszweifel, die im Gespräch mit dieser klugen Ordensfrau erlaubt sind. Denn die zierliche Frau, die Jahrzehnte als Grundschullehrerin und später als Pädagogin in einem Mädchen-Internat im engen Kontakt mit der Jugend stand, ist geistig wie körperlich auf die Höhe. Nicht nur, dass sie nach wie vor in die Berge zum Wandern geht („Aber nicht mehr über 2000 Meter“), sie liebt Höhenflüge: Bei der Auer Dult in München direkt vor ihrer Haustür lässt sie es sich nicht nehmen, im Kettenkarussell durch die Luft zu schweben. Wie ein Engel saust sie über den Mariahilfplatz – und ihre Augen strahlen.
Es war kein einfaches Leben, in das Sofie Rieder hineingeboren wurde im kleinen Ort Frauenzell im Oberallgäu. Sofie Rieder ist die Älteste von vier Kindern. Zeit für die Kinder haben die Eltern kaum. Der Vater ist im Krieg, die Mutter bearbeitet eine kleine Landwirtschaft. „Die Großmutter hat auf mich aufgepasst“. Von ihr lernt sie beten. „Ich höre heute noch, wie sie hinter dem Ofen gesessen ist und ihre Gebete gemurmelt hat.“ Früh entdeckt sie die Lebensgeschichte der Heiligen Theresa von Liseux – eine eigenwillige junge Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts eigenständige theologische Studien anstellte und der auch Glaubenszweifel nicht fremd waren. Die „kleine Theresa“ wird ein großes Vorbild.
Mit zwölf Jahren ist die Kindheit vorbei
Sieben Jahre besucht Sofie Rieder die Volksschule, das achte Jahr geht sie im Nachbardorf zu Schule – damit ist die Kindheit vorbei. „Ich musste Kinderarbeit machen“, erzählt sie lakonisch. Mit zwölf Jahren hilft sie nach der Schule in einer Familie mit fünf Söhnen. Zupacken bei der Heuernte oder dem Mistausbringen, Putzen und Kochen im Haushalt. 20 Mark im Monat bekommt sie dafür. Hinterm Haus ist ein riesiger Holzstoß – die kleine Sofie muss Holz hacken. „Es war schon wuchtig, bis ich das gelernt hab“, sagt die heute weißhaarige Frau, „und ein paar Glasscheiben vom nahen Gänsestall gingen auch zu Bruch.“ Sie beißt sich durch. „Ich konnte die Arbeit zum Schluss so gut, dass ich es bedauert habe, als der Holzhaufen verschwunden war“, lacht sie.
Duchhaltevermögen zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Sie hat ein gutes Abschlusszeugnis, doch wie sollte es weitergehen? Der Pfarrer vermittelt das Mädchen an den Orden der Armen Schulschwestern in Kempten-Lenzried. Sofie hat damals eine naive Vorstellung vom Klosterleben. „Leiden und beten, das ist alles, was man im Kloster tut“, dachte sie. Der Pfarrer erklärt ihr, dass sie auch einen Beruf erlernen müsse. „Du bist gescheit genug, Du wirst Lehrerin.“ Fertig, keine lange Diskussion. So kam sie 1953, mit 13 Jahren, in die Landeshauptstadt. „München war mein Traum“, erinnert sie sich. In der Volksschule hatte eine Bayernkarte gehangen, in der Mitte rot markiert: München! „Dieser Fleck hat mich magisch angezogen. Ich hab in meinem Innern gespürt: Da will ich hin!“ Eine Ordensschwester begleitet sie nach München. „Ich werde nie vergessen, wie wir vom Bahnhof zum Kloster zu Fuß gegangen sind. Ich bin wie im Trancezustand durch diese Stadt gelaufen: So viele Gebäude, die riesigen Häuser, das hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen.“ Das Lernen macht ihr Spaß, sie schafft dort 1960 das Abitur – tritt in den Orden ein und studiert auf Lehramt an Grundschulen.
Bereut hat sie die Entscheidung für den Orden nie. „Es gab Krisen und Überlegungen. Ich hätte mir auch etwas anderes vorstellen können. Zum Beispiel eine Familie gründen“, sagt sie heute. Aber diese Gedanken waren nie so stark, dass sie den Orden hätte verlassen wollen, „mein Weg war das Leben mit Gott“. All ihre Energie und Liebe steckt sie in die Arbeit mit den Schulkindern, denen sie in Marktoberdorf, Lenggries und Aichach das Lesen und Schreiben beibringt. Ihre Augen leuchten, wenn sie von der Schule erzählt. Auch zu den Gymnasiastinnen, bei denen sie bis zuletzt war, hatte sie einen guten Draht. Kein Wunder: Die Ordensfrau ist eine geduldige Zuhörerin und Ratgeberin. Seit sieben Jahren ist sie wieder in München. Von Ruhestand aber keine Spur. „Ich bin an der Pforte, mache Lektoren-, Mesner- und Tischdienst, übernehme gelegentlich auch Fahrdienste.“
Beweglich ist sie geblieben, jung im Kopf. Als sie in unserer Zeitung über wachsende Kriminalität am Alten Botanischen Garten liest, hat sich die couragierte Schwester ein Bild vor Ort gemacht. Eine Frau torkelt auf sie zu, bittet mit lallender Stimme um ein Gespräch. Beide setzen sich auf eine Bank. Die Frau erzählt Schwester Talida von ihrem zerrütteten Leben, von Drogensucht, Vergewaltigung und Schlägen. „Am Schluss ist sie aufgestanden und hat mich umarmt.“ Viele Menschen sprechen sie an, wenn sie in der Stadt unterwegs ist. Bitten um einen Segen, ein Gespräch, um Rat. Sie werden gebraucht, die Ordensfrauen. Trotzdem müssen sie Häuser aufgeben. Das tut weh. „Wir müssen auch in Würde loslassen können“, sagt sie tapfer. „Wir dürfen nicht mit trauriger Miene herumlaufen, wir müssen diese Verluste annehmen.“
Orden als Orte für die Ewigkeit
Schwester Talida wäre nicht Ordensfrau, wenn sie keine Zuversicht hätte. Es brauche in Zukunft Orden – als Rückzugsgebiete für Menschen, die den Sinn im Leben suchen. Orden müssten Gebetsorte sein für Welt und Kirche. „Wir müssen die Gottesidee lebendig halten. Es gibt noch andere Ziele als Geld, Konsum und Reisen. Wenn wir krank werden, wird man vielleicht darauf gestoßen. Es gibt Dinge, die nicht verfügbar sind, die wir empfangen: wie die Liebe, Freundschaft und Vergebung. Klöster müssen Erinnerungsorte sein für das Ewige, das Leben nach dem Tod.“
Heute, am 23. Oktober, feiert Schwester Talida ihren 85. Geburtstag. Mit Gottesdienst, einem Schlückchen Sekt und gutem Essen. Neben den 20 Mitschwestern am Mariahilfplatz sind auch ihre drei Geschwister dabei. Hat sie einen besonderen Wunsch? „Ich habe alles, was ich brauche“, sagt sie. Geistig und körperlich beweglich will sie jedenfalls noch lange bleiben – „dann kann ich noch einiges tun für die Gemeinschaft. Träume habe ich auch noch und Freude an den schönen Dingen des Lebens.“ Kettenkarussell fahren zum Beispiel.
CLAUDIA MÖLLERS