Mehr Recht aufs Geschlecht

von Redaktion

Neues Selbstbestimmungsgesetz: Schon 350 Anträge in München

Jule Rönitz ist künftig divers statt weiblich.

Mit der Transgender-Flagge: KVR-Chefin Hanna Sammüller-Gradl (Mitte) und die Grünen-Stadträte Marion Lüttig und Beppo Brem. © Grüne, Marcus Schlaf

Wer Jule Rönitz sieht, meint, eine hübsche junge Frau vor sich zu haben. Doch da ist mehr: Jule ist eine der Personen, die jetzt am Standesamt ihr Geschlecht neu eintragen lassen. Als Mädchen erzogen und als „weiblich“ verzeichnet, wird Jule künftig „divers“. Das Selbstbestimmungsgesetz macht es seit 1. November möglich. Jeder, dessen körperliches und seelisches Empfinden mit dem zugewiesenen Geschlecht nicht übereinstimmt – also trans-, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen –, kann dieses nun anpassen lassen. Ohne Gutachten, ärztliche Bescheinigung oder richterlichen Beschluss, nur anhand eines Formulars. In München wurden dazu bisher rund 350 Anträge gestellt.

Für nicht Betroffene ist es oft schwer zu verstehen, warum das neue Gesetz so wichtig ist. „Ich habe mich nie als Frau gefühlt“, erklärt Jule (28) der tz. „Alle sagten in der Pubertät: Jetzt bist du bald eine junge Frau. Aber ich habe das nie gespürt.“ Männlich fühlt sich Jule, von Beruf Bauingenieur, aber auch nicht. So viel ist ebenfalls seit der Pubertät klar. „Mit 20 habe ich dann zum ersten Mal den Begriff ‚nicht-binär‘ gehört. Das hat mich sofort berührt. Jetzt weiß ich, dass ich nur nicht-binär Ich sein kann.“ Mit wem man zusammen sein will, auch körperlich, hat für Jule allerdings nicht unbedingt etwas damit zu tun, was man selbst ist. „Meine sexuelle Orientierung ist queer, aber vorwiegend verliebe ich mich in Frauen oder ebenfalls queere Menschen. Denn ich will mich verstanden fühlen. Freundschaften sind mir im Moment auch wichtiger als romantische oder sexuelle Beziehungen.“

Seit sechs Jahren ist bei Jule nichts Festes in Sicht – sehr wohl aber der Traum von Familie. „Ich hätte schon gerne einmal Verantwortung für ein oder mehrere Kinder, würde sie gerne aufwachsen sehen.“ Im Moment ist Jule allerdings noch damit beschäftigt, sich im eigenen Körper zu Hause zu fühlen: Im Rahmen einer Operation wurden vor zwei Jahren beide Brüste entfernt. Ein großer Schritt, den etwa Jules Mutter zuerst nicht gut fand, dann aber aus Liebe zu ihrem Kind doch unterstützte. Mehr medizinische Maßnahmen sind jedoch nicht mehr geplant.

Weil eine neue Arbeitsstelle erst in wenigen Monaten beginnt, engagiert sich Jule zurzeit viel als Vorstandsmitglied im Verein Diversity München. Die Institution an der Blumenstraße hilft queeren jungen Menschen auf ihrem Weg in ein geerdetes, glückliches Leben. Schließlich sind viele nicht-binäre und trans Menschen mit Vorurteilen konfrontiert, die es zu bekämpfen gilt. „Die Behauptung, dass queere Personen kleine Kinder auch queer machen wollen, ist zum Beispiel blanker Unsinn. Oder auch die Vorstellung, dass sich Männer als Frau eintragen lassen, um in der Frauensauna zu gaffen. Sexuelle Gewalt findet täglich statt, ohne dass die Täter so einen Aufwand betreiben! Die Gesellschaft ist so sehr geprägt von Rollenbildern, dass es vielen Angst macht, wenn sich neue Wege auftun.“

Jules Termin beim Standesamt ist gleich nächste Woche. Im Reisepass der scheinbaren Sie steht danach ein X für „divers“. Die einzig richtige Bezeichnung für den Menschen, der dann durch die Tür des KVR in ein neues, authentischeres Leben geht.
ISABEL WINKLBAUER

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