Großeinsatz im September: Die Polizei erschießt Anfang September einen bewaffneten Mann am NS-Dokuzentrum. Dieser gab zuvor Schüsse auf das israelische Generalkonsulat ab. © Theo Klein/imago
Tod im Supermarkt: Eine 31-Jährige wurde Ende August von Polizisten in einem Geschäft in Sendling erschossen. Die Frau war zunächst durch ihr aggressives Verhalten aufgefallen, dann attackierte sie vier Polizisten mit einem Messer. © Vifogra
München, Ende August: Eine Frau fällt durch aggressives Verhalten am Goetheplatz auf, flieht dann mit der U-Bahn und geht in einen Supermarkt an der Implerstraße in Sendling. Dort finden sie vier herbeigerufene Polizeibeamte, sprechen sie an. Daraufhin attackiert die Frau die Polizisten mit einem Messer. Die Beamten feuern sodann mehrere Schüsse ab, die Frau stirbt. Nur wenige Wochen später, Anfang September, hält ein österreichischer Teenager die Stadt in Atem – er greift mit einem Repetiergewehr das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokuzentrum an. Die Polizei erschießt den Angreifer und vereitelt so einen Terroranschlag mitten in München.
Zwei Menschen starben in München heuer durch Polizeikugeln. Und weitet man den Blick auf ganz Bayern, dann zeigt sich: Im abgelaufenen Jahr starben im Freistaat so viele Menschen durch Schüsse aus Polizeiwaffen wie seit Langem nicht. Den einen Grund dafür gibt es nicht – zu unterschiedlich sind die Fälle, wie schon die beiden tödlichen Münchner Schusswaffeneinsätze zeigen. Aber die Fälle sind Teil einer Entwicklung, die der Polizei Sorgen macht.
Bei ihren Einsätzen haben bayerische Polizeikräfte heuer so viele Menschen durch Schüsse aus Dienstwaffen tödlich verletzt wie seit 1997 nicht mehr. Laut Innenministerium starben vier Menschen, in fünf Fällen gab es Verletzte. Hinzu kam ein weiterer tödlicher Schusswaffengebrauch durch Kräfte der Bundespolizei.
Laut Landeskriminalamt starben zuletzt im Jahr 1997 vier Menschen durch den Schuss einer bayerischen Polizistin oder eines Polizisten. 2023 war es einer gewesen, 2022 zwei und 2021 gar keiner. Dennoch wäre es laut LKA verfehlt, von einem negativen Trend zu sprechen.
Zur Einordnung: In den Jahren seit 1997 wurde in fünf Jahren gar kein tödlicher Schuss durch bayerische Polizeikräfte registriert. In 14 Jahren gab es je einen Toten, in fünf Jahren je zwei Tote und in zwei Jahren je drei Tote. Der Schusswaffengebrauch von Bundespolizisten wird in dieser Statistik nicht erfasst.
Warum 2024 ein bisschen aus der Reihe fällt, lässt sich laut LKA nicht eindeutig erklären. „Ein möglicher Erklärungsansatz kann sein, dass gewaltsame Konfrontationen, etwa bei Bedrohungslagen mit Messern oder psychischen Ausnahmesituationen der Betroffenen, zunehmen“, erläuterte ein Sprecher. Auch jenseits direkter Angriffe auf Polizeikräfte nähmen Situationen zu, in denen die Beamtinnen und Beamten „in einem Bruchteil einer Sekunde“ auf (lebens-)gefährliche Situationen reagieren müssten.
Nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz darf eine Polizeikraft nur in klar definierten Ausnahmesituationen ihre Waffe einsetzen. Der Einsatz muss immer verhältnismäßig sein und gilt als letztes Mittel. Vereinfacht gesagt darf dann von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werden, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, gefährliche Straftaten dadurch verhindert oder beendet werden können oder die Flucht eines gefährlichen Straftäters verhindert oder unterbunden werden kann. Das Ziel der Schussabgabe soll es sein, den Täter angriffs- und fluchtunfähig zu machen.
Im Laufe des Jahres waren vonseiten der Polizeigewerkschaften wiederholt Forderungen nach einer breiteren Ausstattung auch von Streifenbeamten mit Elektroschockgeräten gestellt worden, um die Gefahren für Polizeikräfte zu vermindern und auch Verletzte und Tote durch Polizeischüsse zu vermeiden. Die Geräte, die landläufig unter dem Namen eines Herstellers als „Taser“ bekannt sind, schießen zwei nadelförmige Projektile in den Körper des Widersachers. In der Folge kommt es zu einem Stromfluss, der den Betroffenen vorübergehend lähmt.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erteilte diesen Forderungen jedoch eine Absage: Der Taser sei kein „Allheilmittel“ für gefährliche Einsätze, vor allem bei Tätern mit Schusswaffen oder Messern. „In hochbrenzligen und lebensgefährlichen Situationen könnte der Taser keine Wirkung haben, beispielsweise wenn die Elektroden die Kleidung des Angreifers nicht durchdringen können.“ Außerdem lasse ein Angreifer seine Waffe durch die muskuläre Verkrampfung nicht zwingend fallen.
Nicht selten ist die Polizei mit dem Vorwurf konfrontiert, in heiklen Situationen nicht deeskalierend genug zu handeln und stattdessen unnötig Gewalt anzuwenden. Gleichzeitig birgt jeder Einsatz für Polizistinnen und Polizisten die Gefahr, selbst verletzt zu werden. Die Aggressionsbereitschaft gegenüber Polizei und Rettungskräften scheint gestiegen, wie sich auch in München zeigt. Das bestätigte auch Simon Höllrigl, Polizist und Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft München, der nach den tödlichen Schüssen in dem Supermarkt an der Implerstraße im August im Gespräch mit unserer Zeitung die Sicht der Beamten auf einen solchen Einsatz erklärte. Besonders schwierig: „Ein Einsatz mag unspektakulär beginnen, doch das kann sich schnell ändern. Grundsätzlich ist bei jedem Einsatz eine gewisse Anspannung zu spüren.“ Man wisse nie, was als Nächstes passiert – und genau darin liegt die Gefahr. Polizisten im Einsatz blieben oft nur Millisekunden, um eine potenziell lebensbedrohliche Situation, etwa einen Messerangriff, abzuwenden. Darauf verweist auch eine Videoserie der Polizeigewerkschaft Bayern auf Youtube, die zeigt, warum Messerangriffe nicht so leicht abzuwehren sind, wie gemeinhin gedacht. In unter zwei Sekunden könne ein Angreifer einen sieben Meter entfernten Beamten erreichen – und erheblich verletzen, falls dieser nicht schnell genug reagiert. Trotzdem: Der Gebrauch der Dienstwaffe sei das letzte Mittel, denn „keiner will, dass im Einsatz irgendjemand zu Schaden kommt“, so Höllrigl.
ELKE RICHTER/DPA