Wie viel Arbeit verträgt das Leben?

von Redaktion

Ein provokantes Job-Angebot des Kinderwunschzentrums entzweit München

„Verachtung für Work-Life-Balance“: Das Stellengesuch des Kinderwunschzentrums, das die Menschen polarisiert.

Was ist die richtige Work-Life-Balance: Über das richtige Maß an Entspannung und Arbeit scheiden sich die Geister. © Mauritius (2), Antonia Benz (5), privat

Diese Stellenanzeige sorgt für Riesen-Wirbel. „Wo sind die Gipfelstürmer dieser Nation mit Verachtung für Work-Life-Balance und New Work?“: So wandte sich das Kinderwunschzentrum an der Oper an arbeitswillige Mediziner. In den Sozialen Medien und in Netzwerken löste das provokante Job-Gesuch einen Shitstorm aus. Es hagelte Kritik, unter anderem meldete sich die ehemalige Arbeitsdirektorin von Siemens, Janina Kugel, zu Wort: „Verachtung für andere ist nicht akzeptabel“, postete sie. Doch es gibt auch Lob. Zustimmende Kommentare wie „absolut nachvollziehbar“, „Leistung sollte wieder im Mittelpunkt stehen“ oder „Angebot stößt auf (potenzielle) Nachfrage. Wo ist das Problem?“, sind zu lesen.

Stellt sich die Frage: Wie viel Arbeit verträgt das Leben? Der renommierte Münchner Orthopäde und Hochschuldozent Professor Dominik Pförringer (44) hat dazu eine klare Haltung. Der Mediziner sieht unsere gesellschaftliche Entwicklung in Sachen Leistungsbereitschaft mit Sorge. „Wir werden zunehmend fauler; sowohl im täglichen Leben als auch, was das Arbeitspensum angeht“, sagt der Arzt. Eine Wochenarbeitszeit von 80 bis 100 Stunden sei für einen jungen Arzt nicht unüblich und auch für ihn nicht die Ausnahme. „Wir haben als Assistenzärzte oft 30 Tage am Stück durchgearbeitet – bei einem Gehalt von 2000 Euro als voll ausgebildeter Arzt nach Studium und Promotion. Ich habe das nie als Belastung empfunden.“

Die Aufregung um die Annonce kann er nicht verstehen. „Wenn ein Unternehmen Leute haben will, die in Vollzeit in die Tasten hauen, dann ist das sein gutes Recht.“ Keiner werde gezwungen, sich zu bewerben, sagt er. „Nicht für jeden ist dieses Arbeitspensum geeignet.“ Im medizinischen Bereich müsse „eine überdurchschnittliche intrinsische Motivation da sein“, die ein Stück weit „aus einer Lust am Heilberuf, einer inneren Passion“ entspringe. Eine Einstellung, die dem Sprössling einer altbayerischen Ärztefamilie in die Wiege gelegt wurde. Dabei habe er Verständnis, dass man in bestimmten Lebenssituationen weniger arbeiten könne, etwa wenn ein Kind zu betreuen sei. Doch ihm sei „schleierhaft“, dass die Leute gleich in Teilzeit anfangen wollten oder generell arbeitsunwillig seien. „Die Rechnung ist sehr einfach: wer 20 Stunden pro Woche arbeiten will, der hat das Recht 20 Prozent des Mindestlohns zu verdienen.“

Und was sagen die Verfasser der Stellenausschreibung? Man wollte mit dem provokanten Gesuch ein gesellschaftliches Problem ansprechen, sagt Dr. Jörg Puchta, Leitender Arzt und Geschäftsführer der Klinik. „Viele erwarten gar eine Drei- oder Vier-Tage-Woche. Bei der bereits bestehenden Personalknappheit schaffen wir die Arbeit eh kaum.“ Dass das Inserat derart für Furore sorgte, habe ihn überrascht. Doch im Gegensatz zu den vielen negativen Reaktionen auf der Plattform LinkedIn erreichten die Klinik „täglich aufmunternde Bewertungen“ im Stile von „Endlich einmal jemand, der die Wahrheit ausspricht“, so Puchta. Sieben hochkarätige Bewerbungen seien bereits eingegangen, überwiegend von Frauen.
DANIELA POHL,

ANTONIA BENZ

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