Warnt: Oberstaatsanwalt Thomas Goger. © Sigi Jantz
Der Chatverlauf mit dem Sex-Erpresser: Die Fälle nehmen immer mehr zu. Opfer sind meist Männer. © Christin Klose
Melanie meint es ernst. Sie zählt 15 Sekunden runter. Nach vier Sekunden antwortet ihr Opfer: „Was soll ich tun?“ Der Münchner (41) ist verzweifelt. Denn „Melanie“ ist kein Online-Flirt. Sondern Sex-Erpresserin!
Erpressungen mit Nacktbildern oder -filmen nehmen immer mehr zu, warnen Staatsanwälte der Zentralstelle Cybercrime Bayern (ZCB). Sprecher Thomas Goger: „Seit 2021 nehmen die Fälle immer mehr zu. Wir hatten erst am Mittwoch acht neue Fälle. 2024 verzeichneten wir 368 Verfahren in Bayern, doch das ist die absolute Untergrenze. Die Dunkelziffer ist immens.“ Typische Opfer: junge Männer von 16 bis 40. „Die machen 90 Prozent der Geschädigten aus“, sagt Goger.
Wie beim Münchner Fall. Der begann wie viele andere auf dem Sozialen Netzwerk Instagram. Der Mann nahm laut Goger die Freundschaftsanfrage einer „Aurelia“ an. Goger: „Nach erstem Austausch von unverfänglichen Nachrichten wechselten sie auf Skype.“ Dort fordert „Aurelia“ den Mann schnell dazu auf, „in einem Videochat zu masturbieren“, so Goger. Er tut es – dann geht der Albtraum los. Nach rund 30 Sekunden bricht der Videochat ab. Die Erpressung beginnt. Auf einmal fordert eine „Melanie“ über Skype 3000 Euro – denn: Angeblich hat sie ihn beim Befriedigen gefilmt.
„Wenn Sie sich wirklich um Ihr Leben und Ihr Image sorgen, dann müssen Sie mir richtig und schnell antworten, sonst werden Sie es bereuen“, schreibt die Verbrecherin – und startet einen Countdown: „Sie haben nur 15 Sekunden Zeit, mir zu antworten – 0 Sek – 1 Sek – 2 Sek – 3 Sek – 4 Sek…“ Der Münchner verzweifelt: „Was willst du?“ Melanie: „Soll ich löschen oder teilen.“ Das Opfer: „Bitte löschen.“
Melanie droht, das Video auf „Online-Video-Websites“ zu posten – etwa „ProSieben Österreich“ oder „Kabel Eins Österreich“ – aber auch auf Pseudo-Seiten wie „Folx-Fernsehen“ oder „Over-the-Air-Fernsehen Mehrwertsteuer“. Laut Oberstaatsanwalt Thomas Goger schickt sie ihrem Opfer auch ein Foto seiner Instagram-Freundesliste und eine gefälschte Aufnahme der Video-Plattform „Dailymotion“ – und droht, das Video auch „an Ihre Familie und Freunde zu schicken, damit sie wissen, was Sie vor Ihrem Bildschirm tun. Es könnte Ihren Ruf ruinieren“.
Später verlangt „Melanie“ nur noch 500 Euro. Das Opfer: „Das hab ich nicht auf dem Konto. Wie gesagt, ich war die ganze Zeit in Kurzarbeit.“ Die Erpresserin geht auf 300 Euro runter, droht erneut: „Wenn Sie jemals versuchen sollten, sich über mich lustig zu machen oder sich gegen mich aufzulehnen, schwöre ich beim Leben meiner Tante, dass Sie es Ihr Leben lang bereuen werden.“
Der Münchner zahlt am Ende nichts – und zeigt den Fall an. Genau richtig gehandelt, sagt Justizminister Georg Eisenreich (CSU). Er warnt vor immer mehr Fällen von sogenannter „Sextortion“ (englisch für „Sex-Erpressung“) – und davor, die Forderungen der Verbrecher zu erfüllen: „Überweisen Sie kein Geld bei Erpressungen, denn die Forderungen gehen meist weiter. Sichern Sie die Chatverläufe mit Screenshots und brechen Sie den Kontakt zum Täter sofort ab. Ganz wichtig ist: Auch wenn die Scham noch so groß ist und es viel Überwindung kosten kann: Zeigen Sie Täter an!“
Laut ZCB stammen die Täter aus der organisierten Kriminalität meist aus Südostasien oder aus westafrikanischen Ländern wie Nigeria oder der Elfenbeinküste. Nicht alle Fälle gehen so glimpflich aus wie der des Münchners: Laut US-Ermittlungsbehörde FBI haben in den USA seit 2021 mindestens 20 Teenager Selbstmord begangen, weil sie mit Nacktfotos erpresst wurden. Auch in Bayern nahm sich ein Opfer das Leben.
THOMAS GAUTIER