Arbeiten den Missbrauch auf: Ignaz Raab (v.li.), Sozialreferentin Dorothee Schiwy, Sabine Walpert und Benno Oberleitner.
Diese Fotos zeigen den jungen Benno Oberleitner. © Fotos: Oberleitner, Götzfried, Jantz
Benno Oberleitner kümmert sich um die Vergangenheit.
Das Münchner-Kindl-Heim in München-Harlaching.
Er war ein sogenanntes Verschickungskind – den Großteil seiner Kindheit und Jugend hat Benno Oberleitner (68) aus München in Heimen und Internaten verbracht. Seine Eltern ließen sich früh scheiden: „Meinen Vater habe ich kaum gekannt.“ Obwohl seine Mutter ihn geliebt habe, musste Benno als Sechsjähriger ins Heim. Dort hat er Furchtbares erlebt. Jetzt endlich, Jahrzehnte später, werden Geschichten wie die seine aufgearbeitet. Die Stadt München lässt diesen Prozess auch wissenschaftlich begleiten und berichtete gestern öffentlich darüber.
Das Thema betrifft viele: So wie Oberleitner ging es möglicherweise Hunderten von Kindern der Nachkriegszeit. Zwischen 1945 und 1975 sollen sich rund 3000 Kinder in Obhut des Münchner Jugendamts befunden haben. Meist vermittelte die Behörde die Kinder in bayerische Heime oder in Pflege- und Adoptivfamilien. Mittlerweile ist klar: Viele von ihnen waren Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt. So auch Benno, der heute Vorstand des Betroffenenbeirats zur Aufarbeitung der Heimerziehung ist.
Während seiner Zeit im Münchner-Kindl-Heim in Harlaching, dem damaligen Avenariusheim in Pasing und dem Jugendwerk St. Josef in Landau in der Pfalz erlebte Oberleitner körperliche Gewalt, sexuellen und psychischen Missbrauch. Ein Erzieher habe ihm das Nasenbein gebrochen, erzählt er, und ältere Mitschüler vergewaltigten ihn mehrfach. Die Erzieher hätten weggesehen.
Die Erinnerungen an diese Zeit und die traumatischen Erfahrungen habe er lang verdrängt, sagt Oberleitner. „Ich habe das nicht täglich behandelt“, sagt er. Vor zwei Jahren wurde er aber auf die Kampagne der Stadt zur Aufarbeitung der Heimerziehung aufmerksam. Da seien die Erinnerungen wieder hochgekommen, sagt Oberleitner. Er meldete sich als Betroffener – so wie 210 weitere Personen bisher.
Im Jahr 2021 hat die Stadt mit der Aufarbeitung der Heimerziehung begonnen. Der Stadtrat berief eine unabhängige Expertenkommission, die die Gewalt- und Missbrauchsvorwürfe aufklären soll. Geleitet wird das 14-köpfige Gremium vom pensionierten Polizisten Ignaz Raab, der 18 Jahre lang das Kommissariat für Sexualdelikte bei der Münchner Polizei führte. Außerdem hat der Stadtrat ein Budget von 35 Millionen Euro genehmigt – davon sollen Leistungen an die Betroffenen gezahlt werden. Die Zahlungen sollen „eine Anerkennung des Leids und der Gewalttaten sein, die die Betroffenen erfahren haben“, sagt Sozialreferentin Dorothee Schiwy (SPD).
Betroffene, die ab 1945 durch das Münchner Jugendamt in Heimen, Pflege- oder Adoptivfamilien untergebracht wurden und dort Missbrauch und Gewalt erlebt haben, können sich beim Kinderschutz melden (www.kinderschutz.de, 089/23 17 16 91 70). Diese Anlaufstelle hilft etwa dabei, die Anerkennungsleistungen zu beantragen.
LEA SCHÜTZ