Hier Verfall, dort Vielfalt

von Redaktion

Schandfleck Zerwirk und Genieschmiede Colab: Zwei Häuser, zwei Welten

Wird verkauft: das Zerwirkgewölbe in der Ledererstraße.

Liebt ihre Arbeit: Colab-Geschäftsführerin Claudia Frey. © JANTZ

In der kleinen, unansehnlichen Freddie-Mercury-Straße, die von der Dachauer stadtauswärts rechts abgeht, schlummert in einem Neubau das Reich der Geistreichen. Hier ist das Munich Urban Colab. Auf 3600 Quadratmetern Grundfläche und 11 000 Metern Nutzfläche sitzen die Erfinder von morgen für ein besseres München. Das, wie das Gebäude zeigt, auch mit Mut und Leidenschaft bauen kann – und das Konzept ist ohnehin aller Ehren wert. Hier können Start-up-Gründer ihre Ideen entwickeln, hier mieten auch etablierte Unternehmen von den Stadtwerken über Siemens bis SAP Räume an, um den kreativen Tüftlern über die Schulter zu schauen. Und, wenn überzeugt, natürlich Geld in die potenziellen Unternehmer der Zukunft zu pumpen. Möglich macht das ganze System die Technische Universität mit ihrem Projekt „UnternehmerTUM“: Sie hat das Grundstück von der Stadt in Erbpacht erworben, innerhalb von anderthalb Jahren ein fantastisches Gebäude ganz im Industrie-Stil (Kosten: 30 Millionen Euro) aus dem Boden gestampft und finanziert sich eben über die Mieten der Arrivierten. Die Start-ups zahlen nichts.

Colab-Geschäftsführerin Claudia Frey liebt ihre Arbeit: „Bei UnternehmerTUM gibt es bis jetzt über 500 Start-ups und über 50 Neugründungen jährlich. Jeder, der im Programm ist, kann hier Tag und Nacht arbeiten.“ Vier bis fünf Arbeitsplätze stehen einem Start-up zur Verfügung, etablierte Firmen mieten oft große Büroräume, „ganz nah an den Talenten und ihren Ideen“. Es gibt Vortragssäle, ein großes Auditorium im Stil eines Amphitheaters, einen fantastischen Wintergarten vom Erdgeschoss bis unters Dach, ein schmuckes Café und, und, und. „Hier weht ein echter Gründergeist“, sagt Frey. Ein Kontrapunkt zur allgemeinen Stimmung, zu Bauruinen, Baustellen, Mietwahnsinn, S-Bahn-Desaster oder Bürokratie-Irrsinn. „Die Menschen, die hier ihre Ideen entwickeln“, ist sich Frey sicher, „hoffen natürlich auch auf finanziellen Erfolg. Aber entscheidend ist: Sie wollen die Welt verändern und gerade auch München lebenswerter machen.“ Das reicht von Pflege der Zukunft über innovative Mobilitäts-Konzepte bis zu revolutionären Technologien wie KI und Quanten-Computing. Im kommenden Jahr soll die Freddie-Mercury-Straße asphaltiert werden. „Und wenn erst einmal die Grundstücke drumherum erschlossen sind, wenn die Jutier- und die Tonnenhalle saniert sind und der Park angelegt ist, dann wird das hier ein echtes Zentrum für Geist, Erholung und Party.“ Der Freddie auf dem Bauzaun gibt die Richtung vor. Energisch und aufwärts.

Schöne Gegenwarts- und Zukunftsmusik, was man beim Zerwirk nicht sagen kann. Denn der Freistaat hält das zweitälteste Gebäude der Stadt mit rund 750-jähriger fantastischer Geschichte nicht für erhaltenswert und will es verscherbeln. Erst ließ man es verfallen, jetzt weg damit. „Der Ausverkauf der Münchner Schätze“, titelten wir im Mai 2024. Und ein Schatz ist der strenge gotische Bau an der Ledererstraße 3 mitten in der Altstadt, keine Frage. Ab dem 13. Jahrhundert war das Zerwirk Teil des Herzoghofes, um 1600 diente es als herzogliches Falkenhaus. Es folgte rund ein Jahrhundert als kurfürstliches Brauhaus. Der Name leitet sich daher ab, dass hier später das erlegte Wild der Hofjagden zerlegt wurde. Viele Politiker laufen Sturm gegen die wohl feststehenden Pläne der Staatsregierung. Befürchtet werden etwa Luxuswohnungen und Bürolofts, obwohl „gerade im Zentrum akute Raumnot herrscht und Orte für Kleingewerbe, freie Kunst- und Kulturszene oder für Jugendliche fehlen“, so das Münchner Forum.

Die zuständige Immobilien Freistaat GmbH will so weit wie möglich entwarnen. „Der Freistaat Bayern ist sich der kulturhistorischen und geschichtlichen Bedeutung des ehemaligen Zerwirkgewölbes bewusst“, heißt es auf unsere Anfrage. Allerdings gäbe es keinen „staatlichen Verwendungszweck“. Eine Machbarkeitsstudie habe ergeben, dass nach einer grundlegenden Sanierung „diverse Nutzungsarten, darunter Wohn-, Büro-, Gewerbe- und Kulturzwecke“ möglich wären. Im Vordergrund stünde „eine am Gemeinwohl orientierte Nutzung durch den potenziellen Erwerber“. Diese potenziellen Erwerber würde es geben, Gespräche mit Interessenten seien im Gange.
MATTHIAS BIEBER

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