Es gibt viel mehr Möglichkeiten, dem eigenen Alltag zu entfliehen, als man denkt: Zum Beispiel könnte man mal einen Einkauf machen und im Supermarkt nicht das Produkt kaufen, dass man kaufen will, sondern das zwei daneben im Regal. So käme ich zum Beispiel bei unserem Supermarkt vom langweiligen Eisbergsalat zum Chicorée Salat, den ich eigentlich gar nicht mag, aber den ich ja mal wieder ausprobieren könnte. Und statt Ketchup käme ich zu „Hot & Spicy Barbecue Sauce“ und sofort wäre mehr Feuer im Alltag.
Eine andere Möglichkeit ist, sich einfach mal ein fremdes Auto auszuleihen. Im Sommer machten wir diese Erfahrung zwangsläufig, weil bei einem großen Bahnchaos nur die Möglichkeit blieb, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Es war herrlich, wie unser eigenes Auto, nur ohne Brösel zwischen den Sitzen. Wobei man bei unserem Auto gar nicht mehr von „Bröseln“ sprechen konnte, eher von ganzen Broten. Auch aktuell nutzen wir wieder ein fremdes Auto, diesmal aus der Verwandtschaft und das ist ein ganz besonderes: Es ist definitiv ein Auto (vier Räder, Lenkrad), aber sonst sehr anders als alle Autos, mit denen ich jemals gefahren bin.
Zum Beispiel hält dieses Auto Piepsgeräusche bereit, auf die jeder Synthesizer aus den Achtzigern neidisch wäre. Es piepst gefühlt immer. Zum Beispiel piepst es grundsätzlich beim Rückwärtsfahren, nicht nur, wenn man sich dem Auto vom Nachbarn nähert. Es würde auch in der Sahara mit 5000 Kilometer Rangierfreiheit in jede Richtung beim Rückwärtsfahren piepen. Und natürlich steigern sich die Piepsgeräusche, wenn man sich wirklich einem Hindernis nähert. Dann werden sie schneller und schneller, bis sie zu rufen scheinen: „Oh Gott, wir werden alle sterben!“ Sie ahnen es schon: Es piepst auch, wenn man nicht angeschnallt ist oder der Beifahrersitz belastet ist, also schon bei kleinstem Gewicht ab Vogelfeder aufwärts. Das Auto kommt mir mit seinem Daueralarm vor wie eine nahe Verwandte, die hinter jeder Schönwetterwolke schon den Hurrikan sieht. Natürlich hat es mich interessiert, wie es klingt, wenn ich unangeschnallt rückwärtsfahre, mit einer Palette Dosentomaten auf dem Beifahrersitz: Das Auto verwandelte sich in die kleinste Disco der Welt.
Sehr unterhaltsam ist auch, wo so manche Knöpfe angebracht sind. Ich fuhr einmal in ein Parkhaus ein und suchte den elektrischen Fensterheber. Ich hatte ihn an der Tür erwartet, fand aber nichts. Hinter mir fuhr ein anderes Auto ein, ich konnte nicht rangieren, also verwandelte ich mich in einen Regenwurm, schob mich, gestreckt auf eine Körpergröße von etwa zwei Meter 40, einmal durch die schmale Öffnung zwischen Tür und Parkticket-Säule und zog die Parkkarte ab. Oder die Hupe: Die sitzt nicht auf dem Lenkrad, sondern ist ein kleiner Knopf am Blinkerhebel. Das merkte ich aber erst, nachdem mich ein Lkw beim Spurwechsel zerquetschen wollte und ich fünfmal auf das Lenkrad trommelnd tonlos gehupt hatte. Hätte ich nicht eine Vollbremsung gemacht, stünde heute auf meinem Grabstein: „Er wusste nicht, wo die Hupe ist“.
Das Schönste an dem Auto ist die Stimme des Navigationssystems. Vor 15 Jahren war sie sicher beeindruckend, heute eher nicht mehr so: Sie klingt sehr ehrlich nach Computer, wenn sie „An nächster Kreuzung geradeaus fahren!“ sagt, eigentlich wie K.I.T.T., das Superauto der 80er-Jahre-Serie Knight Rider. Und da ist sie ja, die Flucht aus dem Alltag. Ich antworte: „Nein, ich fahre nicht geradeaus, bist du bereit, über den Lastwagen zu springen? Und mach schon mal die Blendgranaten klar, die wir gleich abwerfen!“ Und mein Auto antwortet mit schönster Computerstimme: „Mache ich, Martin. Und wenn wir sie erledigt haben, kaufen wir uns Chicorée und Hot & Spicy Barbecue-Sauce!“