MÜNCHNER FREIHEIT

Diagnose: Mord!

von Redaktion

Gestern wären die beste Ehefrau von allen und ich beinahe in Streit geraten – vor dem Fernseher.

Nein, es ging nicht um die Frage, welches Programm wir sehen wollen, sondern um den Film selbst, einen Krimi. Denn das Sujet ist herausfordernd geworden. Nicht nur, dass immer mehr „Tatorte“ und andere Mord-und-Totschlag-Serien aus aller Welt sich im Programm breitmachen – allein ein halbes Dutzend Ermittlerteams aus München besucht uns regemäßig im Wohnzimmer. Die Geschichten werden immer kniffliger. Nicht die Kriminalfälle, wohlgemerkt. Die spielen oft eine Nebenrolle und sind so einfach gestrickt, dass wir sie mit dem kriminalistischen Spürsinn, den wir uns in langen Jahren des Krimisehens und -lesens erarbeitet haben, noch vor der ersten Werbepause lösen.

Dieser Spürsinn ist nichts mehr wert. Statt des Strafgesetzbuchs liegt heute der Pschyrembel auf dem Wohnzimmertisch, ein klinisches Wörterbuch, und die beste Ehefrau von allen hat das Psychiatrische Wochenblatt abonniert.

Das Wissen um psychische Leiden und Deformationen war früher nur für die Frage relevant, ob der Mörder in den Knast kommt oder in die Geschlossene. Heute dagegen ist es unabdingbar, um die Figur des Kommissars oder der Kommissarin und ihres Teams zu entschlüsseln. Denn deren Privatprobleme stehen im Mittelpunkt. Ich rede hier nicht von den liebevoll überzeichneten Schrullen des Ermittlerteams etwa in der Serie „München Mord“, die allein schon wegen der wunderschönen Münchner Sprachmelodie von Alexander Held sehenswert ist. Eher von Krimis, in denen ein manisch-depressiver Kommissar mit Anzeichen einer Borderline-Störung, unterstützt von einer Kollegin, die damit beschäftigt ist, ein Missbrauchs-Trauma aus der Kindheit aufzuarbeiten, und dem Quoten-Schwulen im Kriminallabor einen Serienmörder jagen. Interessanterweise hat es bei Letzterem im Drehbuch nicht mehr für einen ordentlichen psychischen Defekt gereicht. Der ist einfach nur böse.

Mir tun die Schauspieler leid. Die werden nicht mehr Ehrenkommissare der bayerischen Polizei wie Walter Sedlmayr und Udo Wachtveitl, sondern allenfalls noch Ehrenpatienten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie.

Zum Beispiel die Kommissarin in dem Krimi gestern Abend. „Die hat Stress mit ihrem Mann, was ich gut verstehen kann, und lässt ihren Frust jetzt an Mitarbeitern und Zeugen aus“, war meine Einschätzung. „Du machst es dir wieder mal viel zu einfach“, widersprach meine Frau. „Die wurde als Kind nicht geliebt. Hast du nicht gesehen, wie sie reagiert hat, als die alte Dame so anrührend über ihren toten Sohn gesprochen hat?“

Ja, was nun? Emanzipatorisch getriebene Krawallschwester oder Opfer frühkindlicher Vernachlässigung? Unbeherrschte Borderline-Kandidatin oder von Ängsten gequälte Frau? Wir suchten in den Regungen der Akteure nach den winzigsten Hinweisen, deuteten, diskutierten. Wer weiß, wohin uns das noch geführt hätte, wäre nicht plötzlich der Film zu Ende gewesen und hätte uns ratlos zurückgelassen: Wer, bitteschön, war jetzt eigentlich der Mörder?

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