Keine Ahnung, welches die aufregendsten Momente im Leben von Zehnjährigen in der Steinzeit oder im Mittelalter waren. Vielleicht war es die erste Teilnahme an der Jagd auf einen ausgewachsenen Fasan? Die Erlaubnis, zum ersten Mal Blumen zu streuen beim höfischen Zeremoniell? Die Mutprobe, durch den Burggraben zu schwimmen? Im 20. und 21. Jahrhundert, das ist klar, war das Aufregendste, was Kinder im Alter von zehn Jahren zu bewältigen hatten, die Fahrradprüfung.
Ich weiß es ja selber noch wie heute: Ein regnerischer Tag, der Schulhof zugestellt mit mobilen Ampeln, dazwischen Lehrer und Polizisten. Letzte mahnende Worte, dann los. Und dann, fast war es geschafft, die Schlüsselstelle „Linksabbiegen“. Ich sehe mich noch heute mit maximal Tempo 1 km/h in die Mitte einordnen, wahllos herumschauen, nur leider nicht nach hinten. Es ist nicht so, dass ich jede Nacht von der Fahrradprüfung träume und schweißgebadet aufwache, aber jede zweite Nacht schon. Kein Schulterblick, Ehrenwimpel dahin: Auf nichts wäre ich bis heute stolzer in meinem Lebenslauf.
Und jetzt ist mein Sohn dran. So sehr heutige Kinder mit zehn Jahren schon so cool wirken wie Clint Eastwood im Angesicht von zehn Banditen, so viel Bammel haben die Zehnjährigen immer noch vor der Fahrradprüfung. Seit Tagen ist im Wohnzimmer ein Parcours aufgebaut, die Strecke geht an Stuhlhindernissen vorbei und gipfelt mit der Eckcouch in einer Doppel-Linkskurve. Mein Sohn bewegt sich da zitternd vorwärts und dreht so wahllos den Hals wie ich. Sobald wir im, wie es heißt, „Realverkehr“ fahren, kann er wieder alles. Die Aufregung vor der Fahrradprüfung vererbt sich so wie die menschliche Angst vor Schlangen und Spinnen. Und ist noch lähmender als ihr Biss.
Schön an allem finde ich, dass die Übungsblätter der Theorieprüfung immer aus der Zeit gefallen sind. Ich habe die Fahrradprüfung mit Unterlagen gemacht, auf denen die Kinder Schlaghosen trugen, mein Sohn macht sie mit Unterlagen aus den 2000ern. Und wenn meine Ur-Ur-Ur-Enkel in 200 Jahren Fahrradprüfung machen, wird es ein Foto geben mit einem Ball, der auf einer Straße zwischen Ufos liegt. „Wie verhältst Du Dich richtig in dieser Situation?“
In 200 Jahren, da werde ich schon längst vergessen sein, selber schuld. Alles wäre anders gewesen, hätte ich damals den Schulterblick gemacht. Dann würde in 200 Jahren irgendeine Roboterhand über den Stammbaum gehen und den staunenden Urenkeln sagen: „Der hatte den Ehrenwimpel“. Also „no pressure“, „kein Druck“, lieber Sohn. Aber, lass uns doch noch mal üben zwischen Couch und Wohnzimmertisch. Es macht ja Spaß. Und: Es geht ja nicht ums Fahrradfahren. Das kannst Du eh. Es geht um etwas viel Größeres als den ersten Fasan oder den Burggraben. Es geht, Trommelwirbel, um den Ehrenwimpel.
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