Menschen mit Adipositas leiden oft psychisch an ihrer Erscheinung. © Fotos: Bodmer, Getty Images
Viele Münchner werden immer dicker – ein Trend, der in ganz Deutschland immer stärker ins Gewicht fällt: Inzwischen sind zwei Drittel aller Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig. Jeder vierte Deutsche hat einen Body-Mass-Index von über 30 und damit Adipositas. Was aber macht diese chronische Erkrankung mit der Seele der Betroffenen? „Viele fühlen sich diskriminiert. 90 Prozent haben bereits ohne fremde Hilfe versucht, abzunehmen. Sie suchen verzweifelt nach Hilfe, klammern sich an jeden Strohhalm, recherchieren beispielsweise im Internet nach Möglichkeiten, Gewicht loszuwerden. Von unserem Gesundheitssystem werden sie aber alleingelassen“, analysiert Professor Hans Hauner vom Else-Kröner-Fresenius-Zentrum an der TU München. Der renommierte Ernährungsmediziner hat mit Wissenschaftlerkollegen beklemmende Erkenntnisse über das Leben von adipösen Menschen in Deutschland gesammelt. Die Details wurden gestern bei einem Expertengespräch vorgestellt.
Die Grundlage: eine von den Ernährungsmedizinern konzipierte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa unter 1004 Menschen mit Adipositas. Demnach werden viel zu wenige Betroffene mit guten Therapieangeboten betreut – auch deshalb, weil insbesondere die Hausärzte als erste Ansprechpartner dafür kein Geld erhalten und zu wenig Zeit haben. Hauners Fazit: „Die Krankenkassen sind pleite. Sie haben kein Interesse daran, intensive Adipositas-Therapien zu bezahlen. Deshalb muss sie der Gesetzgeber dazu zwingen. Leider ist das im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aber nicht vorgesehen.“
Zwar gibt es bei der Behandlung von Adipositas einen wichtigen Fortschritt: die sogenannte Abnehm-Spritze. Sie ist seit etwa drei Jahren erhältlich. Aber für die Nutzer stellt sich ein großes Problem: Sie müssen für eine Jahresdosis Wegovy oder Mounjaro – so die Handelsnamen der beiden verfügbaren Präparate – über 4000 Euro hinblättern. Die Krankenkassen erstatten die Kosten nicht. Ein Fakt, der dazu beitragen dürfte, dass die meisten stark Übergewichtigen von der Abnehm-Spritze gar nichts wissen wollen. Laut Umfrage bewerten nur 26 Prozent die neue Methode positiv. Ähnlich skeptisch bewerten sehr viele Adipöse chirurgische Maßnahmen wie eine Magenverkleinerung. In Sachen Ernährungsberatung und medizinischer Betreuung stehen viele Betroffene auf verlorenem Posten. „Die Adipositastherapie in den Hausarztpraxen ist verbesserungswürdig“, bilanzierte Prof. Christina Holzapfel in dem Expertengespräch. Auch deshalb, weil die Vergütung mau und der Zeitaufwand relativ hoch ist. Unterstützung können Selbsthilfegruppen bieten. „Jeder ist willkommen“, betonte Christel Moll vom Adipositasverband.
ANDREAS BEEZ